Das Verhältnis zu Vorgesetzten

Kritisch aber noch korrekt

 Gegen Ende der Grundausbildung werden die zu Beamten auf Zeit zu ernennenden Wachtmeister erstmals in ihrer Beamtenkarriere beurteilt. Bevor dies geschehen kann, müssen Grundsätze des Beamtenrechtes repetiert werden. Während die meisten Ausbildenden gesteigerten Wert auf die Vermittlung der Kenntnisse der Pflichten eines jeden Beamten legen, ist Bokolic’s Ausbildungszug an einen der jungen Kommissare geraten, die zu der Zeit die ersten Aufstände gegen die alte Beamtenhierarchie proben. Demzufolge unterlässt es dieser Kommissar nie, auch und insbesondere auch die Rechte der Beamten anzusprechen und die Art und Weise, wie man listig und richtig im Bedarfsfalle von den Rechten Gebrauch macht. Der Geschäftszimmerbulle Fliege lässt am Tage der Ernennung die Wachtmeister einzeln in der Reihenfolge, die der Schulleiter durch die offene Tür seines Offiziums ihm ansagt, zu dessen Schreibtisch vortreten. Dort werden dem vorgelassenen Wachtmeister, im Stehen versteht sich, seine erste Beurteilung zur Kenntnis gebracht, wobei Fliege bereits seinen dicken Daumen auf die Stelle des Papiers presst, an die der Beurteilte seine Unterschrift setzen soll. Bokolic kommt als einer der letzten Delinquenten an die Reihe. Dies hat er dem Umstand zu verdanken, dass der Schulleiter die ausgefertigten Ernennungsurkunden in umgekehrter Reihenfolge des Alphabets zur Hand nimmt, weil, ordentlich wie nun einmal Fliege ist, dieser die Urkunden alphabetisch sortiert, aber, wegen der Geheimhaltung persönlicher Daten Dritter, die Papiere wie auch die Beurteilungen mit dem Gesicht und der Schrift nach unten auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten ablegt. Offensichtlich haben die meisten der Bedachten die Beurteilung gar nicht erst durchgelesen, sondern auf den heftig Daumen drückenden deutlichen Fingerzeig des Geschäftszimmerbullen Fliege diese ohne Gegenwehr als gottgegebenen Gnadenerlass oder auch Ungnadenerlass unterschrieben. Bokolic sieht hierfür jedoch keine Veranlassung. Er nimmt das doppelseitig beschriebene Papier von der Schreibtischunterlage und liest, halblaut das Gelesene vor sich hinmurmelnd, die einzelnen Passagen der Beurteilung langsam durch. Während des wohl ungewohnten Vorgangs trommelt der Schulleiter ungeduldig mit den Fingerspitzen auf der Schreibtisch-Unterlage. Als Bokolic zu Ende gelesen hat, legt er das Papier zurück auf den Schreibtisch, greift über die schwarze Federschale des Schulleiters zu dem sorgsam an der Seitenkante ausgerichteten Lineal, legt das Lineal an einer ausgesuchten Stelle der Beurteilung an, zückt seinen Federhalter und, die beiden Vorgesetzten wollen ihren Augen nicht trauen, unterstreicht er ein Wort in der Beurteilung, um danach mit Schwung an der geforderten Stelle seine Unterschrift zu setzen. Hierbei murmelt er für alle im Zimmer Anwesenden vernehmbar vor sich hin: „Beurteilungen dürfen in keiner Weise negativ formuliert werden. Somit lautet es in meiner Beurteilung bei der Passage Verhalten gegenüber Vorgesetzten: kritisch aber noch korrekt. Um jeden Anschein einer unzulässigen negativen Äußerung zu vermeiden ist das noch zu unterstreichen“. Diese leise aber deutlich vernehmbare Äußerung des Wachtmeister Bokolic bleibt unerwidert. Die Ernennung wird ihm mit versteinertem Gesicht vom Schulleiter vorgebetet. Danach wird er ebenso wortlos aus den heiligen Räumen entlassen. Alle seine zukünftigen Beurteilungen werden in dem Punkt seines „Verhaltens gegenüber Vorgesetzten“, wenn nicht wörtlich, so doch in der Tendenz immer gleichbleibend sein.

 

 Vorgesetzte mit den eigenen Waffen schlagen

 

Es scheint auch heute noch manchen uniformierten und nicht uniformierten Beamtenseelen nichts wichtiger zu sein als die formale Korrektheit ihrer Kleidung, ihres Benehmens und ihres gesamten Beamtenlebens. Bokolic ist bereits auf der hessischen Polizeischule als unangepasster Beamter unangenehm aufgefallen. Er kann dem reinen Formalismus nun einmal keine guten Seiten abgewinnen und hat in den ersten Wochen die Schleifer auf das gebührende Maß zurechtgestutzt. Eine beliebte Methode stammt noch aus Bokolic’s Schulzeit. Sie orientierte sich an dem Glaubenssatz, dass jeder am ehesten mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden kann. Peistreck und Fliege sind solche Formalschleifer, die versuchen, den durchweg gestandenen Schülern der Lehrgänge für lebensältere Bewerber, den ihrer Meinung nach für einen uniformierten Schutzpolizisten unbedingt notwendigen Korps Drill und den dazu gehörenden Glauben an die Unfehlbarkeit des „Formalen an sich“ nahe zu bringen. Nicht umsonst wird der erste Ausbildungsabschnitt im Grundlehrgang in Anlehnung an das Militär mit Formalausbildung überschrieben. Die Abkommandierung zur Hauswache zählt zu den gehassten Dingen des Grundlehrganges. In regelmäßigen Zeitabständen werden die Schüler, meist stubenweise, in den Abend- und Nachtstunden, wie auch an Wochenenden, zu Pförtnerdienst und Sicherungsstreifen auf dem Schulgelände eingeteilt. Die Einteilung zu den Wochenenddiensten wird von den niederen Chargen der Ausbilder wie Peistreck und Fliege sozusagen als Belohnung für ihrer Meinung nach unbotmäßigen Verhalten vorgenommen, worunter Bokolic’s Stube aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung besonders zu leiden hat. Einer der Ausbilder hat als Kommissar vom Dienst die Wache zu beaufsichtigen und zu befehligen. Er hält sich jedoch grundsätzlich in einem eigens für ihn eingerichteten Zimmer auf und kontrolliert in unregelmäßigen Abständen die Wache, die bei seinem Erscheinen wie gelehrige Pudel Männchen baut und ihm Losung, Stärke und Dienstausübung vorbellt. Wenn Peistreck Kommissar vom Dienst ist, so ist ihm anzumerken, dass er nun endlich die absolute Befehlsgewalt über seine Zöglinge hat. Wachvergehen würden, wenn es nur nach ihm geht, wohl wie hundert Jahre zuvor mit dem Tode oder zumindest mit Festungshaft bestraft. Bei Vergatterung der Wache lässt er als Einziger von dem ihm unbeliebtesten Untertan die gesamte Wachordnung herunterbeten. Er besteht darauf, dass ohne Ansehen der Person oder Situation diese Ordnung buchstabengetreu einzuhalten ist. Damit hat er sich bei Bokolic, bevor er davon etwas ahnt, sein eigenes Grab geschaufelt. Wegen irgendwelcher Nichtigkeiten ist die Besatzung von Bokolic’s Zimmer von Peistreck zum zweiten Wochenenddienst hintereinander kommandiert worden. Dies ist in den Augen der Betroffenen umso unverzeihlicher, als alle vier verheiratete Väter sind, die zudem, wegen der weit entfernten Wohnorte der Familien, an den so verkürzten Wochenenden nicht nach Hause fahren können. Dies weiß der ledige Peistreck sehr genau. Die Wache beginnt freitags, nach Feierabend des zivilen Pförtners, und dauert dienstplanmäßig bis zum nächsten Abend an. Am Freitagnachmittag sind die Sporteinrichtungen der hessischen Polizeischule allen Polizeibediensteten und Beamten des Innenministeriums zugänglich. So kommt regelmäßig auch der für die Polizei zuständige Staatssekretär mit einigen höheren Beamten des Ministeriums zu ihren Sportreffs an die Polizeischule. Keinem der Wache Schiebenden ist entgangen, dass beim Nahen solcher Dienstlimousinen die Pförtner, wie auch die wachhabenden Uniformierten, über die einschlägige Wachvorschrift zur unbedingten Einlasskontrolle von Mensch, Tier und Fahrzeug hinwegsehen, und allzu willfährig und liebedienerisch, die Hacken zusammenreißend, den Schlagbaum hochgehen lassen, ohne Ausweiskontrolle und ohne pflichtgemäß Namen festgestellt und im Gästebuch, nebst Kennzeichen der einfahrenden Fahrzeuge, notiert zu haben. Wie üblich fahren an diesem Freitag zwei Dienstfahrzeuge des Ministeriums und ein dicker Privatschlitten vor, besetzt mit einigen sporthungrigen Spitzen der obersten hessischen Sicherheitsbehörden. Bokolic steht wachhabend am Schlagbaum, Riesenbaby sitzt am elektrischen Schlagbaumöffner im Wachhaus. Der Rest der Mannschaft ist auf Außenstreife. Wie gewohnt hat Riesenbaby beim Herannahen der Prominenz auf „Öffnen“ gedrückt. Der Schlagbaum wird jedoch von Bokolic mit energischer Hand in seine Ausgangsstellung zurückgedrückt, kaum dass er sich Zentimeter nach oben bewegt. Riesenbaby, der Dies bemerkt, jedoch nicht versteht, was sich da abspielt, gibt schließlich dem unmissverständlich geäußerten Willen Bokolic’s nach und nimmt seinen dicken Finger von der Öffnertaste. Da ihm jedoch Böses schwant, verständigt er pflichtgemäß über das Wachtelefon den Kommissar vom Dienst, Peistreck, es gebe bei der Einlasskontrolle Schwierigkeiten. Die drei Fahrzeuge stehen nun sauber aufgereiht vor geschlossenem Schlagbaum. Alle Insassen haben die Scheiben heruntergelassen und beschweren sich einer lauter und vehementer als der andere über die Unverschämtheiten des Wachhabenden. Dieser beharrt jedoch ruhig aber ebenso laut und vernehmlich auf der vorgeschriebenen Kontrolle und verweist darauf, dass der Kommissar vom Dienst, Peistreck sei sein Name, bei der Vergatterung der Wache vor nicht mehr als einer Stunde unter Androhung strengster dienststrafrechtlicher Folgen auf buchstabengetreuer Einhaltung der Wachvorschrift bestanden habe. Wie das Leben so spielt, hat natürlich keiner der hohen Herrschaften einen Dienstausweis zur Hand. Der Herr Staatssekretär besteht darauf, dass ihn doch jeder Schüler der hessischen Polizeischule kennen müsse. Bokolic entgegnet hierauf, er sei ihm bisher noch nicht vorgestellt worden, und es könne jeder behaupten er sei Staatssekretär. Im Übrigen verweist er auf die einschlägigen Vorschriften der Wachvorschrift, die übrigens von der Dienststelle des Herrn Staatssekretärs, erlassen worden sei und überhaupt und allgemein auf den ihm vorgesetzten Kommissar vom Dienst, der ja schließlich ausdrücklich solches befohlen habe. In diesem Augenblick tritt dienstbeflissen der leichenblasse Peistreck an den Wagen des zweithöchsten Herrn aller Herren der hessischen Polizei heran. Wie unter einem inneren Zwang schlägt er die Hacken zusammen und spult formalistisch herunter: „Wache der hessischen Polizeischule unter Leitung von Kommissar Peistreck angetreten, Wachtmeister Bokolic als wachhabender Wachtmeister, die Wachtmeister brabbel brabbel brabbel ...“. Als er geendet hat, ordnet er unverzüglich die Öffnung des Schlagbaumes an. Der Herr Staatssekretär bemerkt unwirsch: „So, so, Kommissar Peistreck scheint seinen Dienst sehr starr zu begreifen. Ach Wachtmeister Bokolic, den Namen muss ich mir unbedingt merken“. Danach entschwinden die Herren zur sportlichen Verrichtung in Richtung Sporthalle der hessischen Polizeischule. Peistreck hat am Montagmorgen viel Mühe, dem anfragenden Schulleiter den Vorfall zu erklären. Noch mehr Ärger bekommt er, als dieser den Eintrag des Bokolic im Wachbuch abzeichnen darf, in dem geschrieben steht: Auf Anordnung von Kommissar Peistreck wurde dem Herrn Staatssekretär und fünf nicht identifizierten Personen Zugang zum Schulgelände gestattet. Peistreck kann dem Schulleiter dummerweise weder Namen noch Funktionen der Begleiter des Herrn Staatssekretärs nennen, wie es jedoch die einschlägige Wachvorschrift der hessischen Polizeischule für die Einlasskontrolle für alle verbindlich vorschreibt. Die Wachvorschrift war übrigens vom Herrn Staatssekretär persönlich unterzeichnet.