Rotkäppchen und Wölfchen

 

Im Jahr vor der Wiedervereinigung des Saarlandes mit der Bundesrepublik haben die Weihnachtsferien recht früh begonnen.

 

Marie-Luise wird von ihrer Großmutter, die nach dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren die Mutterstelle an ihr vertritt, nur Rotkäppchen genannt, weil sie immer ihre schwarzen, zum Zopf geflochtenen Haare unter einem bei den jungen Mädchen in Mode gekommenen roten Samtbarrett verbirgt. Zu Beginn der Weihnachtsferien ist sie von Saarbrücken, wo sie das Deutsch-Französische Gymnasium besucht, mit dem Zug nach Wiesbaden gefahren, um Ihren Vater zu besuchen, der als Verbindungsbeamter vom Französischen Hohen Kommissar im Saarland zu einem Planungsstab der Alliierten abgeordnet ist. Nun ist aus Saarbrücken die Nachricht gekommen, dass ihre Großmutter leicht erkrankt ist und so bringt der Vater Rotkäppchen noch an Heiligabend nach Mainz zum Zug, damit die bettlägerige Großmutter über die Feiertage nicht so einsam und alleine in ihrer Saarbrücker Villa zubringen muss. Rotkäppchen steigt am Ende des Zuges, ganz wie es sich für die Tochter eines höheren Beamten gehört, in das Erste Klasse Abteil ein.

 

Wolfgang, der von seiner Großmutter immer noch als das Nesthäkchen der Familie zärtlich mit Wölfchen angeredet wird, hat in diesem Jahr sein erstes Geld als Gehilfe bei einem Landvermesser verdient. So kann er sich jetzt eine Rückfahrkarte nach Mainz leisten und ist zur Schwester seiner Großmutter in der Nähe von Wiesbaden gefahren. Rechtzeitig zum Fest jedoch soll Wolfgang wieder zuhause sein, so hat es seine Großmutter gewünscht, und ihre Wünsche sind den Enkeln immer ein Befehl. Der junge Fritz, erst vor kurzem als einer der letzten Deutschen aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekommen, hat sich von seinem ersten Lohn ein gebrauchtes Krad gekauft, mit dem er Wolfgang samt seinem Rucksack, gefüllt mit lauter guten Sachen die ein Bauernhof so hergibt, am Vormittag des Heiligabend zum Bahnhof in Mainz bringt. In der Nacht auf Heiligabend ist auf der Mainzer Seite des Rheins eine Menge Schnee gefallen.

 

Nun sitzt Wolfgang auf einer harten Holzbank im gut beheizten Dritter Klasse Abteil und schaut den Schneeflocken zu, die im grauen Qualm der alten Dampflokomotive verwirbeln, während der Zug langsam durch die eintönige wintertrübe Landschaft schnauft. Irgendwann ist Wolfgang eingeschlafen und wird erst wieder richtig wach, als in der Abenddämmerung die Lokomotive pfeifend in den Grenzbahnhof einfährt und der Zug quietschend und ratternd zum Stehen kommt. Ein missgelaunter Zöllner stampft durch den Waggon und verkündet nach der Kontrolle der Ausweise knurrend: „Alle aussteigen. Hier ist heute Abend Endstation. Die Strecke nach Saarbrücken ist wegen umgefallener Bäume gesperrt“. Es sind nur wenige Reisende, die sich fast auf dem Bahnsteig verlieren. Ein Handelsvertreter mit seinen Musterkoffern und zwei ältliche Fräulein, offensichtlich Schwestern, diskutieren mit dem Zöllner, der ihnen erklärt, er könne sie auf der Heimfahrt mit seinem Pkw bis nach Lebach mitnehmen. Ein ältliches Ehepaar beratschlagt sich mit dem rotbemützten Bahnhofsvorsteher, der ihnen den Weg zum einzigen Taxiunternehmer im Ort erklärt. Zwischenzeitlich hat die Lokomotive abgekoppelt, über das Parallelgleis ist sie zurückgefahren, hat wieder angekoppelt, und der Bahnhofsvorsteher in der Mitte des Bahnsteigs gibt ihr das Abfahrtssignal, worauf der Zug langsam ruckelnd in die Richtung verschwindet, aus der er gekommen ist.

 

Der Bahnsteig hat sich geleert. Die Fräuleins und der Handelsvertreter sind mit ihrem Gepäck hinter dem Zöllner hergetrabt, das Ehepaar ist mit den weiteren Reisenden in Richtung Dorf verschwunden. Übrig bleibt an einem Ende des Bahnsteigs, dort, wo die Holzklasse des Zuges gehalten hat, Wölfchen mitsamt Rucksack, in der Mitte der bärtige alte Bahnhofsvorsteher mit der Abfahrtkelle in der Hand und am anderen Ende des Bahnsteiges, aus der gepolsterten ersten Klasse ausgestiegen, Rotkäppchen, eine zierliche Mädchengestalt mit rotem Samtbarett und einem kleinen Deckelkorb.

 

Der Alte winkt mit seiner Kelle nach beiden Seiten und die beiden jungen Gestalten trotten zögerlich auf ihn zu, bis sie letztendlich in der Mitte des Bahnsteigs aufeinander treffen. Kurz und knapp stellt er sich vor: „Ich bin der alte Josef, Bahnhofsvorsteher und Mädchen für Alles“. Er fragt kurz nach den Namen der beiden Jungen und nach dem Woher und Wohin; nimmt die Antworten schweigend entgegen und marschiert danach ohne weiter ein Wort zu verlieren über die Gleisanlagen in Richtung eines Hutzelhäuschens, das an die gähnend leere, dunkle Bahnhofshalle angebaut ist, und hinter dessen Fenstern anheimelnd ein goldgelbes Licht leuchtet, in seinem Schlepptau Wölfchen und Rotkäppchen, die sich verstohlen mustern. Der Alte öffnet mit der linken Hand die Tür, mit der Rechten schiebt er die beiden widerstrebenden kleinen Gestalten vor sich her in den Flur und ruft mit seinem dunklen Bass, der es gewohnt ist, das Rattern der Lokomotiven zu übertönen: „Marie, schau doch mal, was für eine Bescherung ich dir zu Weihnachten mitgebracht habe!“

 

Wölfchen bekommt keinen geringen Schrecken, als er der alten Marie ansichtig wird. Ihm ist die massige Figur der „schrecklichen Marie“ in allzu schlechter Erinnerung. Vor Jahren war sie noch als französische Zöllnerin in der nun schon Jahre außer Dienst gestellten hölzernen Zollbaracke der gefürchtete Schrecken aller saarländischen Grenzgängerinnen und ihrer mitreisenden Kinder. Wölfchen hatte damals zusammen mit seiner Großmutter die Bekanntschaft mit einer ihrer berüchtigten Leibesvisitationen gemacht. Doch bei näherer Betrachtung legt sich der Schrecken recht bald. Marie ist wohl am Ende ihrer Dienstzeit bei dem alten Bahnhofsvorsteher geblieben. Ihr ehemals schwarzes Haar ist nun silbergrau und in ihrem vorher so strengen Gesicht spiegelt sich die Milde des Alters wieder. Sie beachtet Wölfchen zuerst gar nicht. Die kleine verschüchterte Marie - Luise wird, nachdem sie deren Herkunft erfragt hat, von ihr mit wohl vertrauten Worten in ihrer Lothringer Heimatsprache getröstet. Derweil hat der bärbeißige Alte die Telefonnummer von Rotkäppchens Großmutter erfragt und nach mehreren Versuchen auch einen Kontakt zu dieser über das Diensttelefon hergestellt: „ Nein vor morgen früh sei nicht mit der Räumung der Geleise zu rechnen. Doch der Kleinen gehe es wirklich gut. Aber gerne könne sie bis morgen bei ihm und seiner Frau bleiben. Seine Frau Marie sei ja selbst eine geborene Lothringerin.“ Danach gibt er den Hörer weiter an seine Marie, die sich mit Rotkäppchens Großmutter eine ganze Weile in Französisch unterhält und zum Schluss darf Rotkäppchen ebenfalls noch mit ihrer Grandmére parlieren. Bei Wölfchen ist die Sache einfacher. Seine Großmutter verfügt nicht über ein Telefon und von daher wird er sein Einverständnis vorausgesetzt, die Nacht bei den beiden Alten im Hutzelhäuschen zu verbringen.

 

Während die alte Marie in der angrenzenden Küche verschwindet, werden Marie -Luise und Wolfgang von dem Alten auf das Plüschsofa verfrachtet, wo sie sich zuerst schweigend begutachten und, als sie sich beide für gut befunden haben, kurze Zeit später, vom Deutschen ins Französische und zurück wechselnd, sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte erzählen. Währenddessen kramt der Alte aus dem schwarzen Vertiko Besteck, Teller, Tassen und Gläser hervor, die er sorgfältig auf dem runden Tisch vor dem Fenster verteilt. Danach verschwindet er brummelnd nach draußen, um kurz danach wieder mit einem Stapel Feuerholz auf dem Arm zurückzukommen. Er bückt sich vor dem runden Bullerofen nieder, legt die Holzscheite daneben in einen Korb, öffnet die Ofenklappe und schiebt zwei Scheite auf die Glut. Wieder verschwindet er nach draußen, um nur wenig später mit einem fertig geschmückten Weihnachtsbaum zu erscheinen, den er in einer Ecke des Raumes in einen geschnitzten Holzständer stellt.

 

Danach kramt er, weiter vor sich hin brummelnd aus den Tiefen eines Schrankes einige alte zerfledderte Bücher hervor, die er vor den kleinen Gästen wortlos auf den Tisch legt. Wenig später haben sich Rotkäppchen und Wölfchen in das fast gleichnamige Märchen der Brüder Grimm vertieft, das sie auf ihre Weise umdeuten.“ Und da begegnete das liebe Wölfchen dem reizenden Rotkäppchen und fragt, ob es ihm den allzu schweren Korb zur Großmutter tragen dürfe. „Du freches Wölfchen, du willst doch nur mitessen dürfen. „ Nein keineswegs, ich habe doch in meinem Rucksack genug Würste, Speck und Schinken. Ich will doch nur, dass du heil zu Deiner Großmutter kommst.“ „Das ist aber nett von dir, wo doch der böse Jäger mit seinem Schießgewehr hinter einem Baum lauern könnte, um mir ein Leid anzutun.“ Und so geht das unter Prusten und Kichern, bis die alte Marie mit einer großen dampfenden Suppenschüssel aus der Küche kommt. Rotkäppchen zaubert aus ihrem Korb ein paar Leckereien dazu bei, Wölfchen steuert aus den Tiefen seines Rucksackes Wurst und Schinken dazu bei, und so kann das Weihnachtsessen beginnen. Doch Halt, die strenge Marie besteht darauf, zur Feier des Tages vor dem Essen anstelle eines Gebets noch die Weihnachtsgeschichte zu lesen Es wird eine recht seltsame Lesung. Marie und Rotkäppchen lesen den ersten Teil aus einer französischen Bibel vor, Josef wiederum den zweiten Teil recht brummig aus einer deutschen Bibel und den letzten Teil rezitiert Wölfchen freihändig aus dem Kopf. Nach dem Essen besteht der alte Josef darauf, dass nach deutschem Brauch die von ihm unbemerkt unter dem Baum abgelegten kleinen Geschenke verteilt werden, während die alte Marie darauf hinweist, dass ihre Geschenke, wie in ihrer Heimat üblich, am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages an der Tür zu finden seien. Spät am Abend bereitet Marie das Bettlager für Rotkäppchen auf dem Plüschsofa vor, während Wölfchen seinen Schlafsack neben dem Bulleröfchen ausbreiten darf. Auch als die beiden Alten sich schon längst in ihr Schlafgemach im oberen Geschoss des Hutzelhäuschens zurückgezogen haben, sind Rotkäppchen und Wölfchen immer noch mit der Fortsetzung des Grimmchen Märchens zu Heilig Abend beschäftigt. Am nächsten Morgen wird Rotkäppchen im Auftrag ihrer Großmutter von einem Chauffeur mit einer Nobelkarosse abgeholt. Wölfchen freut sich darüber, dass er bis Lebach in diesem Luxusgefährt mitfahren darf. Die beiden haben sich noch einige Jahre regelmäßig zu Weihnachten geschrieben, danach aber haben sich Rotkäppchen und Wölfchen endgültig aus den Augen verloren.

 

Zurückgeblieben ist bei Wölfchen jedoch die Erinnerung an eine seltsame aber glückliche Weihnachtsbegegnung.