Küchenfee und Feenschwester

 

Die Großküche im Reppertsbergkrankenhaus war im ureigensten Sinne eine Großküche. Riesige Druckkessel, Rührwerke, Knetwerke, Gasherde mit bis zu zehn Kochstellen, dies Alles stand in einer großen fünf Meter hohen Säulenhalle. Säulen und Wände waren bis an die Decke gefliest, ebenso der Boden und die gemauerten Einbauten. Schwierig waren die Reparaturen an den alten anfälligen auf Putz verlegten Elektroleitungen, denn diese mussten durchweg bei laufendem Betrieb unter Spannung erfolgen. Selten konnte ein Stromkreis ganz abgeschaltet werden. Ludwig war am Morgen mit Bokolic zu einer Notfallreparatur in die Großküche gerufen worden. Im gesamten Transitbereich ist die Beleuchtung ausgefallen. Dies ist der Bereich zwischen der eigentlichen Küche, dort wo die Speisen fertig gestellt werden, und der Geschirrausgabe, wo die Rollwagen mit großen und kleinen Tellern bestückt werden, um danach im Transitbereich mit den fertigen Speisen bestückt zu werden. Während Bokolic die große vier Meter hohe hölzerne Stehleiter aufstellt, um danach im Schneidersitz auf der obersten Spitze, die Abdeckung des fast unter der Decke am Eingangspfeiler angebrachten Verteilerkastens zu lösen, begibt sich Ludwig zum Chef de Casseroliers, dem Chef der Topfspüler und Geschirrausteiler um mögliche Gründe für den Stromausfall zu erforschen. Bokolic hat kaum die ersten Schrauben gelöst, da kommt eine schnaufende Küchenfee mit einem hoch mit schmutzigem Frühstücksgeschirr beladenen Rollenwagen angeschossen. Ohne die korrekt ausgezogene Stehleiter zu beachten fährt sie mit voller Fahrt in die rot weiß gestrichene Sicherungs- und Sperrkette, reißt mit ihrem Wagen die Stehleiter um und sieht voller Schreck wie Bokolic aus seinem Hochsitz geschleudert, kopfüber an dem Pfeiler entlang auf den gefliesten Boden knallt. Bokolic hat Glück. Obwohl er hart mit dem Kopf auf dem Boden aufschlägt wird sein Sturz durch den ausgestreckten rechten Arm, der laut knirschend aus dem Gelenk springt, etwas gedämpft. Bokolic ist schon längst ins Land der Träume eingetaucht, als die resolute Alte ihn mit gekonnten Hüftschwung auf den beladenen Wagen knallt und unter lautem achtungsheischendem Gekreisch mit diesem durch die Küche, über die Flure bis zur Notaufnahme donnert, wo sie Bokolic genauso resolut auf eine der dort stehenden Bahren hebt. Als Bokolic wieder zu sich kommt, liegt er, ärztlich gut versorgt, mit genähter Wunde auf einer Bahre, die von dem besorgt dreinblickenden Ludwig bereits zur Röntgenabteilung geschoben wird. Dort angekommen wird Bokolic hochgehoben. Hierbei fällt ein Klumpen geronnenes Blut aus der Kuhle zwischen Brust und Bauch mit lautem Klatschen zu Boden. Daraufhin zieht es Bokolic vor, mit seinem immer noch dröhnenden Schädel wieder zum Schäfchenzählen abzutreten. Am späten Abend erwacht Bokolic in einem weißen Hemd und fühlt sich wie im Himmel auf Wolke sieben. Um sein Bett herum stehen junge, in weißblauer Tracht wunderhübsch anzusehende Lernschwestern und singen und summen irgendwelche für Bokolic nicht verständliche Himmelstexte vor sich hin. Ludwig beugt sein weißes Haupt über Bokolic, ist ebenfalls mit einem weißen Kittel bekleidet und sieht genau so aus, wie sich Bokolic in seiner Kindheit immer den Petrus an der Himmelstür vorgestellt hat. Auf der anderen Seite des Bettes steht aber eine zarte feengleiche Erscheinung in Schwesterntracht, die Bokolic noch nie zuvor im Kreis der Schwesternschülerinnen gesehen hat. So beschließt Bokolic davon auszugehen, dass dies alles ein schöner Traum sei, und er wider Erwarten nicht in der tiefsten Hölle, sondern im Himmel gelandet sei, und schließt zufrieden lächelnd wieder die Augen. Am nächsten Morgen ist die feengleiche Gestalt jedoch trotz mehrmaligen Armzwickens immer noch da. Sie bringt Bokolic das Frühstück, sie schüttelt ihm Kissen und Federbett, misst Puls und Temperatur, verabreicht Pillen und lächelt dabei immer vor sich hin. Vierzehn Tage bewacht sie Bokolics Krankenlager. Ab und zu sitzt sie in freien Minuten am Bett und liest Bokolic aus den Büchern vor, die der listige Ludwig zu seiner Genesungslektüre ausgesucht hat. Danach ist Bokolic wieder genesen und geht seinen eigentlichen Tätigkeiten im Krankenhaus nach. Jetzt allerdings ist er häufiger als eigentlich notwendig auf seiner Traumabteilung anzutreffen. Auch bringt er, entgegen früherer Gewohnheit, jetzt höchstpersönlich ganz bestimmte Reparaturen ins Lernschwesternwohnheim. Ludwig ist damit einverstanden, ebenso wie die gute hübsche Fee, die zu diesen Zeiten meist Freistunden hat.