Division einer Lateinnote

 

Latein ist und bleibt für mich eine tote Sprache. Nur solche Sätze wie ignis quis audere est circum placere, zu deutsch: Feuer we(h)r wagen ist um gefallen, entbehren nicht eines gewissen Reizes, als sie zur Belustigung Aller dienen. Nachdem ich mehrfach meinem Klassen- und Lateinlehrer erklärt habe, dass ich weder beabsichtige Medizin oder Pharmazie zu studieren, noch überhaupt ein Fach, bei dem ich das kleine oder große Latinum benötige, und daher die Übungen in lateinischer Grammatik als lästiges und überflüssiges Übel ansehe, muss meine Mutter auf Drängen des Klassenlehrers mehrmals in der Elternsprechstunde vorstellig werden und hoch und heilig Abhilfe versprechen, damit ihr Sohn sich weiter den so von ihm verschmähten Exerzitien widmen darf. Allen Ermahnungen und Nachhilfen zum Trotz ist mein Notendurchschnitt im Fach Latein langsam aber stetig auf die schlechteste Note nämlich „mangelhaft“ gesunken. Unsere Benotung ist gerade von dem französischen zwanzig Punkte System auf das in Deutschland übliche sechs Punkte System umgestellt worden. Im französischen Punktesystem sind zwanzig Punkte die höchst erreichbare Note und mit sehr sehr gut oder summa cum laude zu vergleichen. In diesem System habe ich beim Zwischenzeugnis in Latein die Punktzahl sechs erhalten. Im deutschen System nun steht die eins für die sehr hervorragende Leistung „sehr gut“ und die sechs für die genauso sehr hervorragend miserable Leistung „mangelhaft“. Nun sieht es ganz danach aus, dass ich dieselbe Punktzahl sechs oder auch mangelhaft beim Abschlusszeugnis behalten darf und muss. Wir sind inzwischen aus den Niederungen der lateinischen Paukschule emporgestiegen und üben uns erstmals an lateinischen Originaltexten. Während unser Lehrer den „De Bello Gallico“ von Julius Cäsar uns als Anfangslektüre verordnet, lese ich lieber unter der Bank in Liebesgedichten eines gewissen Catull. Das hat jedoch einen Nachteil. Viele der bei Catull vorkommenden Worte oder Begriffe sind sogar dem Schülerwörterbuch für die lateinische Sprache unbekannt, möglicherweise weil diese der Moral und sittlichen Reifung der Schüler allzu abträglich wären. So erschließt sich mir selbst das simple Wörtchen moecha erst nach einer Lesung der deutschen Übersetzung des Gedichtes als „Hure“. Ebenso lassen sich die gleich- und vielgeschlechtlichen Andeutungen und Verderbtheiten Catulls in der lateinischen Originalfassung nur andeutungsweise erahnen. Dies gibt der heimlichen Lektüre erst den richtigen Reiz. Dafür ist die Sprache Cäsar ´s umso klarer und unerbittlicher in ihrer Substanz und ihren Inhalten. Mir bleibt jedoch die Klarheit der Grammatik insbesondere der Ablative auf ewig ein Mysterium. Es dauert nicht lange, da bemerkt unser Lehrer das erlahmende Interesse an Schilderungen von Fußmärschen und Truppenaufstellungen. Durch die Ansage einer Klassenarbeit in Form einer Übersetzung eines Textteils aus dem Original zu genau diesen Themen versucht er das sterbende Interesse erneut auf Trab zu bringen. Der Tag der Klassenarbeit kommt. Die Würfel sind am Fallen, unser Rubikon liegt vor uns und muss jetzt durchschritten werden. Die Benutzung unserer Originaltexte schließt sich nach der Ansicht unseres Lehrers von selbst aus, weil diese wegen der Worterklärungen im Anhang und der vielen von uns handschriftlich hinzugefügten Erläuterungen keine gerechte individuelle Leistungsbeurteilung der Übersetzung gestatten und dem Verbergen von Spickzetteln Vorschub leisten könnte. Zu dieser Zeit gibt es noch keine Kopiergeräte. Die Vervielfältigung ist darauf beschränkt, dass der Herr Lehrer die von ihm ausgewählten Textpassagen auf seiner Schreibmaschine mit jeweils zwölf Durchschlägen zweimal abtippt. Dies erfordert einen harten und kräftigen Anschlag. Der wiederum führt dazu, dass in den oberen der so gefertigten Exemplaren der Buchstaben „O“ sowie die Zahl „0“ so tief durchgedrückt werden, dass sie entweder bereits voll ausgestanzt sind oder sich mit einem Schreibstift leicht herausstanzen lassen. Wer die lateinische oder italienische Sprache kennt, wird zugeben, dass selbst in kurzen Texten eine große Anzahl des erwähnten Buchstabens zu finden ist. Nach einmaliger Durchsicht des uns zur Übersetzung vorgelegten Textes ist mir bereits die Lust an der Arbeit vergangen. Es ist ausgerechnet ein Text, bei dessen Besprechung im Unterricht ich durch Abwesenheit geglänzt habe, denn das Vokabular ist mir genauso fremd, wie die grammatischen Feinheiten, zu denen der Lehrer im Anhang an den kurzen Text zusätzliche fein ausgetüftelte Fragen stellt. Versonnen verfolge ich erneut die Zeilen des Textes, umkreise mit der Spitze meines Stiftes die durchgestochenen „O“, umkreise die vorhandenen Papierfragmente in den übrigen „O“ ebenfalls und steche sie dann vollends aus. Danach zähle ich meine „O“- Missetaten auf dem Papier zusammen und komme auf die viel versprechende Summe von sechsunddreißig solcher Vorfälle. Nach mehrmaliger Nachprüfung schreibe ich kurz entschlossen dort, wo die Antworten auf die gestellten Fragen und die Übersetzung des Textes niedergeschrieben werden sollen: 36: 6 =? Tage später gibt unser Lateinlehrer die Arbeiten benotet zurück. Er hat das Fragezeichen kommentarlos durch eine leuchtend rote Sechs mathematisch korrekt ersetzt. Dies war meine erzielte Note. Wochen später empfiehlt die wegen dieses und anderer Vorfälle einberufene Lehrerkonferenz: „Der Schüler möge zum Anfang des kommenden Schuljahres seinen Abschied von der Schule nehmen.“ Dies tut er dann auch.