Russische Methoden oder die Russenmafia

 

Am Morgen des zweiten Großkampftages gegen die korrupten Bediensteten des Ausländeramtes hat Frau Baikalsee die Staatsanwaltschaft und die Kripo durch eine unerwartete Aussage zu russischen Falschurkunden und der Identität des Urkundenfälschers gezwungen, einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen, und, noch vor Beginn der strafprozessual festgeschriebenen Nachtzeit, wegen begründeter Gefahr im Verzuge, Wohnungen und Büroräume des Verdächtigen zu durchsuchen, sowie den als Fälscher beschuldigten Russen festzunehmen. In der Folgezeit wird Bokolic sich noch häufig nach den zwar durchtriebenen aber dennoch in ihren Umgangsformen zivilisierten rumänischen Doktoren und Ingenieuren zurücksehnen, bei denen er und seine Mitstreiter bei jeder Konfrontation zuerst einmal mit einem Kaffee und einem unverfänglich höflichen Gespräch empfangen wurden.

 Eine zumeist recht trockene Angelegenheit ist ein Sammelermittlungsverfahren. Hier wird dem Laien ein Beispiel für die recht schwierige Ermittlungsarbeit bis zum ersten Zugriff vermittelt. Liebling, der Leiter der Sonderkommission hat sich drei Tage vor dem Einsatz zu einem wichtigen Termin verabschiedet und der Hauptsachgebietsleiter ist unerwartet plötzlich an einer Erkältung erkrankt. So kommt es, dass der junge Kommissar Bokolic am Morgen des Einsatztages vor hundertvierzig Kriminalbeamten, fünfzig Schutzpolizisten und drei Staatsanwälten das Einsatzkonzept vorträgt. Dann reiten die Durchsuchungstrupps vom Hof, um zur festgelegten Zeit mit allen Durchsuchungen zu beginnen. Derweil sitzen die Staatsanwälte zusammen mit Bokolic und Helmuth in dem zur Lagezentrale aufgemöbelten Büro sortieren eingehende Meldungen.

 

Odessaer Familiensitten

 

Gleich bei der ersten Durchsuchung werden Bokolic und seine Kollegen erfahren, was es mit unserer russischen Klientel auf sich hat. Zur Durchsuchung sind beide Staatsanwälte der Soko, eine Dolmetscherin und eine Angestellte der örtlichen Innenverwaltung als Zeugin mitgekommen. Diese schüttelt bedenklich ihren Kopf, als sie den Namen des von der Durchsuchung Betroffenen hört. „Eidelmann sagt mir nichts Gutes, gehört zum Odessaer Kreis, ukrainische Russenmafia, gewalttätige hinterhältige Blase“. Eidelmann ist laut Aktenlage mit Ehefrau sowie der dreijährigen Tochter und fünfjährigem Sohn vor einem Jahr aus der UDSSR über Österreich Richtung Israel ausgereist, jedoch von Österreich über Italien in die Bundesrepublik gelangt, wo er einen Antrag auf Ausstellung eines Flüchtlingsausweises A gestellt hat. Die Wohnungstür wird nach mehrmaligem Klingeln nur einen Spalt geöffnet. Nachdem Eidelmann den Stoßtrupp mit gezückten grünen Ausweisen bemerkt, versucht er die Tür sofort wieder zuzuschlagen, was ihm wegen des dazwischen geschobenen Polizistenfußes nicht gelingt. Mit roher Gewalt wird die Tür von den nachdrängenden Beamten schließlich geöffnet, worauf Eidelmann sofort zum Gegenangriff übergeht und versucht dem an erster Stelle eingedrungenen Polizisten in Uniform einen Tritt in den Unterleib zu verpassen, während Eidelmanns Frau im Hintergrund etwas von Faschisten und Hitler faselt. Es gelingt nach längerem Gerangel Eidelmann in die Küche abzudrängen, wo er auf einem Stuhl mit Handfessel gebändigt, seine Wut nur noch verbal abreagieren kann. Nach Erledigung der Formalien durch die Staatsanwälte unter Zuhilfenahme unserer Dolmetscherin beginnen die Beamten mit der Durchsuchung. Das Ehepaar Eidelmann mitsamt den Kindern verbleibt unter Aufsicht eines Uniformierten und der Dolmetscherin in der Küche, wo die Ehefrau sich unauffällig an einem Stapel alter Zeitungen zu schaffen macht. Bokolic’s Kollege Helmuth nimmt sich das Wohnzimmer vor, Bokolic selbst durchwühlt derweil Kleiderschränke im Schlafzimmer und die Staatsanwälte einschließlich der Zeugin stehen im Flur und schauen durch die offen stehenden Türen interessiert dem Treiben zu. Ein lauter Aufruf der Dolmetscherin lässt Bokolic hochschrecken und eiligst zur geschlossenen Badezimmertür springen. Drinnen rauscht die Toilette. Bokolic öffnet die Tür und bemerkt die dreijährige Tochter Eidelmann, die gerade zum dritten Mal den Wasserabzug der Toilette betätigt. Gott sei Dank hat sich Bokolic schon lange angewöhnt, bei jeder Durchsuchung Einweghandschuhe zu benutzen. So macht es ihm nicht viel aus, mit schnellem Griff die wegen ihrer Größe noch nicht ganz hinuntergespülten Papiere aus der Toilette zu fischen. Derweil plärrt die Kleine in ihrer Muttersprache in Richtung Küche, worauf die Dolmetscherin sich unüberhörbar in ein Gerangel mit Frau Eidelmann stürzt. Der unbeteiligt dabeistehende Polizist sieht sich bemüßigt der Dolmetscherin zu Hilfe zu kommen und entreißt Frau Eidelmann den Stapel Zeitungen, die diese versucht aus dem geöffneten Fenster zu werfen. Nachdem wieder etwas Ruhe an allen Fronten eingetreten ist, stellt Bokolic fest, dass er aus der Toilette zwei russische Ausreisevisa und mehrere Kopien beglaubigter Urkunden gefischt hat. Zwischen Zeitungen werden weitere halb fertige Urkunden- und Siegelentwürfe gefunden. Im Wohnzimmer ist zwischenzeitlich Helmuth fündig geworden. Seine Beute hat er auf dem Teppich ausgebreitet, darunter eine Schreibmaschine mit russischen Schriftzeichen, eine Mappe mit echt erscheinenden Urkunden, einige Urkundsentwürfe, ein Stapel von der Papiersorte, wie sie in russischen Notariaten verwendet wird und noch einige andere Kleinigkeiten, darunter einen scharfen Revolver, mehrere Springmesser und Wurfsterne. Während Helmuth auf dem Fußboden kniet und seine Beute in ein Formular zur Sicherstellung einträgt, hat Bokolic auf dem Sessel Platz genommen und listet die Gegenstände aus Toilette und Küche auf. Ein Schrei lässt ihn erneut hochschrecken. Diesmal schreit der fünfjährige Sohn Eidelmann. Der Kleine hat sich aus der Küche geschlichen und bei Helmuth aus dessen Gesäßtasche die dicke Brieftasche gezogen. Hierbei hat er nicht bemerkt, dass der Schutzpolizist hinter ihm hergekommen ist und ihn recht unsanft am Arm schüttelt, bis er die geklemmte Brieftasche fallen lässt und aufheulend verschwindet. Zu guter Letzt erklären die beiden Staatsanwälte über die Dolmetscherin dem Hausherrn Eidelmann die vorläufige Festnahme, nehmen zur Kenntnis, dass keiner aus der Sippe Eidelmann das von den Kriminalbeamten und der Zeugin korrekt unterschriebene Durchsuchungsprotokoll abzeichnen will, hinterlegen einen Durchschlag auf dem Küchentisch vor Frau Eidelmann und wollen hinter den beiden Schutzpolizisten, die Eidelmann abtransportieren, die Wohnung verlassen. Bokolic dreht sich noch einmal um, da gerät ihm die Flurgarderobe in den Blick. Er bleibt stehen und überlegt, was ihn an dieser Garderobe stört. Richtig, es ist eine der alten hölzernen Stehgarderoben, unten mit Schirmablage und einem Schubkasten, den er ja selbst durchsucht hat, darüber auf der linken Seite ein Spiegel, auf der rechten messingfarbene Kleiderhaken und oben eine Hutablage, alles zusammen auf einer gobelinbespannten Holzplatte montiert. Halt, da stimmt doch etwas nicht. Seit wann wird ein Spiegel, der durch messingfarbene Ecken auf der Holzplatte befestigt ist, in allen vier Ecken nochmals durchbohrt und dann mit billigen Senkkopfschrauben erneut angeschraubt. Bokolic geht zurück in den Flur greift aus seiner Bereitschaftstasche den Schraubenzieher und löst die Senkkopfschrauben. Er braucht den Spiegel nicht ganz abzuschrauben, denn sobald die Schrauben locker sind, flattern mehrere Blätter zu Boden. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um „blanko“ gesiegelte Bögen des Ersten Odessaer Staatsnotariats, das ausschließlich für die Beglaubigung ukrainischer Auslandsurkunden zuständig ist. Aus den sichergestellten Unterlagen des Anwaltsbüros Baikalsee und den Akten des durch und durch korrupten Ausländeramtes hat Bokolic in wochenlanger Kleinarbeit die einzelnen Komplexe falscher Urkunden herausgefiltert. Der Fälscher, Eidelmann, sitzt in Untersuchungshaft, ein weiterer Fälscher hat sich nach Belgien abgesetzt, ein Dritter treibt nach wie vor unerkannt in Berlin sein Unwesen.

 

 

Russische Tatsachenverdrehungen

 

 Am späten Nachmittag sind alle eingesetzten Teams, mit einer Ausnahme ohne gravierende Vorkommnisse zurück und entlassen. Während Helmuth nun die Lagezentrale mit unserer Sekretärin Manu und einem der Staatsanwälte übernimmt, macht sich Bokolic mit Staatsanwälten nebst Dolmetscherin auf, um dem letzten etwas unter Zeitdruck stehenden Durchsuchungsteam beizustehen. Popela, wie er in seinen Kreisen genannt wird, ist erst seit fast einem Jahr mit seiner gesamten Sippe in der Bundesrepublik, hat jedoch bereits eine umfangreiche Akte bei der örtlichen Polizeidienststelle und dem BKA. Er ist, wie so viele seiner Landsleute, von der israelischen Sochnut aus der UDSSR freigekauft worden und von Moskau per Flugzeug nach Wien Schwechat gelangt. Dort hat er das Durchgangslager samt seiner Großfamilie in aller Eile verlassen, wird später von der italienischen Polizei zusammen mit Leonid „B“ in der Nähe von Rom, in Ostia Lido wegen Verdacht des Falschgeldhandels festgenommen, verlässt überstürzt Italien, nachdem Leonid „B“ im Verlauf blutiger Auseinandersetzung zwischen Exilrussen das Zeitliche segnet. Erneut wird Popela in Amsterdam festgenommen, wegen Handels mit Antiquitäten zweifelhafter Herkunft, die mit gefälschten Expertisen versehen sind, um wenig später in Frankfurt am Main mit mehreren falschen 100 US-Dollarnoten eine Rechnung zu begleichen. Nun hat Popela mitsamt seiner Sippschaft, für Bokolic nicht unerwartet, unter Bezug einer Altbauwohnung und einer nur knapp vierstelligen monatlichen Unterstützung durch das Sozialamt, sowie unter Vorlage dubioser Urkunden und Zeugenaussagen über einen der „Linkanwälte“ einen Vertriebenenausweis „A“ beantragt. Seine Ehefrau hat durch die Vermittlung der bekannten Frau Eidelmann einen Job bei der jüdischen Gemeinde bekommen, wo sie ganz unentgeltlich und uneigennützig Neuankömmlinge aus den Staaten der UDSSR betreut. Als Bokolic vor Ort eintrifft, hat das Durchsuchungsteam unter Leitung eines jungen Kommissars aus Bokolic’s Abteilung die Lage fest im Griff. Drei Frauen und vier Kinder zetern in russischer Sprache in den Räumen vor sich hin, immer versucht, die Beamten so gut wie nur irgend möglich bei ihrer Arbeit zu stören. Popela ist abwesend, wohl zu einer seiner zwielichtigen Unternehmungen ausgeflogen. Im Flur stapeln sich Asservate, neben denen ein Polizist samt Hund geduldig Wache hält, damit keines der Kinder, wie in den ersten Stunden geschehen, sich daran zu schaffen macht oder versucht das Beweismittel zu entführen. Staatsanwälte und Dolmetscherin verbleiben zur weiteren Unterstützung der Aktion vor Ort, während Bokolic sich zurückbegibt, um Helmuth bei Sichtung sichergestellter Gegenstände, wie auch bei den Erstvernehmungen der Betroffenen zu helfen. Gegen Abend, inzwischen ist das letzte Team zurückgekommen, sitzt Bokolic allein im Vorzimmer mit der Fertigung des fälligen Gesamtberichts beschäftigt. Da erhebt sich auf dem Flur ein wüstes, schrilles Weibergekeife. Die Tür zum Nebenraum, in dem die Dolmetscherin und Staatsanwälte über den sichergestellten russischen Dokumenten brüten, wird zur gleichen Zeit aufgerissen, wie die Tür, die zum Flur geht. Vom Flur drängt die weibliche Popela-Sippschaft mitsamt drei unbekannten Personen in Bokolic’s Büro. Vor Bokolic’s Schreibtisch kommen sie zum Stillstand, während die Dolmetscherin mitsamt Staatsanwälten aus der geöffneten Tür zum Nebenraum neugierig beobachtet. Simultan übersetzt die Dolmetscherin das Gekeife der alten Schwiegermutter des Popela, die mit erhobener rechter Hand auf den am Schreibtisch sitzenden Bokolic deutet: „Das ist das korrupte Schwein, das aus meiner Nachttischschublade das Briefchen mit Diamanten hat mitgehen lassen. Ich hab es genau gesehen. Auch das Bündel mit den Dollarnoten hat er eingesteckt, will wohl All das unterschlagen. Man kennt das ja schon von der russischen Geheimpolizei. Dieser Gestapopolizist ist nicht besser“. Jetzt wird es Bokolic doch zu bunt. Er brüllt einmal mit lauter Stimme: „Ruhe, verdammt noch mal“, lässt dabei die Faust auf den Schreibtisch krachen. Das wirkt sofort. Die keifende Alte und ihr Gefolge verstummen, während die Dolmetscherin ruhig und gelassen die gehörten Worte ins Russische übersetzt. In der Zwischenzeit sind aus den übrigen Büros Kollegen herbeigeeilt. Bokolic gibt nun ruhig die Anweisung, die Personalien der ungebetenen Besucher aufzunehmen und sie zur Aufnahme einer Anzeige in das im Erdgeschoss liegende Polizeirevier zu begleiten. Im Hinausgehen schimpft Frau Popela ihre alte Mutter aus, während die Dolmetscherin ungerührt auch deren Worte ins Deutsche übersetzt: „ Du alte Schachtel, siehst und hörst nicht mehr gut, hast den Falschen denunziert, du solltest doch den Jungen beschuldigen, der die ganze Durchsuchung geleitet hat, der die falschen Scheine von Popela mitgenommen hat. Das Briefchen mit den Steinen hat er mir zurückgegeben, das hab ich dir doch schon gesagt.“ Popela´s Schwiegermutter erstattet bei der Schutzpolizei trotzdem ihre Strafanzeige gegen den Beamten Bokolic „aus allen rechtlichen Gründen“, wie es ihre Rechtsverdreherin erklärt. Ihre Tochter bezeugt wider besseres Wissen die Darstellungen ihrer Mutter. Währenddessen nimmt Bokolic zu Protokoll, die Aussagen der Dolmetscherin, des Teamleiters und aller bei der Durchsuchung anwesenden Beamten. Die Staatsanwälte schreiben eine Dienstliche Äußerung zu ihren Beobachtungen. Bei der nachfolgenden Abschlussbesprechung ergibt sich: Bei dem in der Wohnung Popela sichergestellten und asservierten Geldscheinbündel handelt es sich um Falschgeld. Bei dem gefundenen wieder ausgehändigten Briefchen mit vorgeblich echten Diamanten handelt es sich nach Aussagen eines fachkundigen Kollegen, der bei der Durchsuchung anwesend ist, um ein Briefchen mit wertlosen Zirkoniten, höchstens zu einem Trickbetrug zu benutzten. Da keine Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen, wird das Briefchen daher zurückgegeben. Neben vielen russischen Urkunden haben die Beamten noch mehr als vierzig russische Ikonen samt fälschungsverdächtigen „Ausfuhrbescheinigungen“ des russischen Zolls sichergestellt. Daneben, wie schon üblich, einige „Gegenstände“, deren Besitz nach dem Waffengesetz verboten ist, sowie einige Plastiktüten mit als „Schmerzmittel“ bezeichnetem weißem Pulver, die in einem der Kinderzimmer, hinter einem der Schränke versteckt, gefunden wurden. Die Schnellprobe ergibt den Befund, dass es sich vermutlich um Heroin handelt, womit die Bezeichnung „Schmerzmittel“ zwar durchaus erklärlich, der Besitz von fast einem Kilogramm jedoch als durchaus strafbar anzusehen ist. Leider können die Beamten diesen „Stoff“ jedoch niemandem zuordnen, sodass nur die Sicherstellung bleibt. Popela selbst bleibt in den nächsten Wochen trotz einer Ausschreibung unauffindbar. Mehrere Monate sind ins Land gegangen. Das Strafverfahren gegen Bokolic und Andere ist eingestellt, mehr als hundert Dienstaufsichtsbeschwerden, die von Betroffenen, diversen Rechtsanwälten und Institutionen im Namen der „wie schon einmal zu Unrecht Verfolgten“ haben ihren Lauf genommen, sind nach der Abgabe Aktenordner füllender „Dienstlicher Erklärungen“ und diverser Stellungnahmen über Sachgebietsleiter, Abteilungsleiter, Behördenleiter, an die Disziplinarabteilung des Innenministeriums und zur dortigen Rechtsabteilung gelangt, das dieselben, jede für sich, nach gewissenhafter Prüfung allesamt als form- frist- und zwecklos und darüber hinaus alle als unbegründet zurückweist. Trotzdem findet sie Bokolic noch nach Jahren fein säuberlich aufgelistet in seiner Personalakte. Bokolic ist mit einem seiner Staatsanwälte nach Berlin gereist, um die notwendigen Nachdurchsuchungen vorzunehmen und die weitere Vorgehensweise mit einem Berliner Kollegen abzusprechen.

 In der Zwischenzeit hat sich herausgestellt, dass einige der Exilrussen groß in das Kreditkartengeschäft eingestiegen sind. Der Berliner Polizei ist es gelungen zwei Kuriere aus den USA abzufangen, bei denen gestohlene Kreditkarten und diverse Ausweispapiere sichergestellt werden. Zum Kreis der Hintermänner wird auch Popela gerechnet, der sich, wie andere aus dem hessischen Russenkreis, nach Berlin abgesetzt hat. Er ist in Wilmersdorf Betreiber eines Antiquitätenladens sowie eines russischen Klubs. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung werden unter anderen Beweismitteln ausgerechnet die Zirkonite sichergestellt, die nach einer Strafanzeige seiner alten Schwiegermutter vor etlichen Monaten angeblich von Bokolic oder einem seiner hessischen Kollegen entwendet worden sein sollten. Vorgefundene Quittungen belegen, dass beinahe die gesamte Einrichtung des von Popela betriebenen Klubs mittels in den USA gestohlener Kreditkarten bezahlt wurde. So bewahrheiten sich die Aussagen des Königs der russischen Taschendiebe, Elikov, der ausführlich die Arbeitsweise der „Al Capone KG“ mit Sitz in Manhattan geschildert hat.

 

Ein Urkundenautodidakt allein auf weiter Flur

 

Helmuth, Bokolic und Manu, ihre fleißige Sekretärin, sind seit drei Wochen von morgens bis spät in die Nacht an den Schreibtisch gefesselt. Manu fertigt standardisierte Anschreiben an Ausländerämter, Meldebehörden, Flüchtlingsdienste, Bundesoberbehörden und Ministerien mit Aktenanforderungen, bei denen sie nur noch den Betreff und Personalien der Betroffenen eintragen muss. Helmuth sichtet die eingehenden Akten, fotokopiert für die Ermittlungen notwendige Beweismittel und Schreiben, legt Beweismittelbände und Sonderbände an, führt einen Aktenplan und füttert den Computer. Bokolic führt die Hauptakten, korrespondiert mit Polizeien, Staatsanwälten und Ministerien, stellt Warnmeldungen für betroffene Behörden zusammen und kümmert sich um Beantragung von Durchsuchungsbeschlüssen, und vor allem um entsetzte Vorgesetzte. Daneben treibt er sich öfter bei einem emeritierten Professor herum, der, von einem Osteuropainstitut vermittelt, Bokolic Kenntnisse über das russische Urkundswesen von anno Tobak, also von vorsowjetischer Zeit bis in die heutige Zeit erklärt. Er bombardiert Bokolic mit Erkenntnisquellen, mit Universitätsbibliotheken, in denen man Unterlagen finden kann, mit Personenverbindungen, die etwas wissen könnten, besorgt selbst Vergleichsmaterialien und stellt aus seinem Fundus alle echten Urkunden zur Verfügung. Bokolic konferiert mit ihm bekannten Gutachtern beim BKA und den Landeskriminalämtern und beginnt mit der Zusammenstellung von Fälschungskomplexen und personenbezogenen Fallakten. Nach einem Monat sind fünfunddreißig beantragte Beschlüsse eingegangen. Nachdem betroffenen Personen und deren Wohnsitze abgeklärt sind, legt Bokolic seiner Behördenleitung die Akten mit Kräfteanforderung und Einsatzkonzept vor. Bis zur Genehmigung der Aktion und der namentlichen Benennung der zugeteilten Kräfte feilen Bokolic und Helmuth fleißig an Unterlagen, stellen Objektmappen zusammen, schreiben Einsatzanordnungen, organisieren Formulare, Mappen, Kartons, Kuverts und Aufkleber, kümmern sich um die Bereitstellung von Fahrzeugen, Fotokopierer Handfunkgeräten, Diktiergeräten, Overheadprojektor, bis hin zu Schreib- und Pauspapier sowie der Einsatzverpflegung für auswärtige Kräfte. Nachdem das OK von ganz oben eingeht und der Termin des Einsatzes mit der Staatsanwaltschaft abgestimmt ist, beantragt Helmuth Sonderkanäle für Funkverkehr und die Büroräume bei örtlichen Dienststellen, während Bokolic die Kräfteaufteilung vornimmt, den Termin für die Vorbesprechung und für die Einsatzbesprechung am Tag der Durchsuchungen festlegt. Dann wird die Einsatzanordnung mit allen gesammelten Fakten ergänzt und für die Einsatzgruppen, den Einsatzstab, die Staatsanwaltschaft, für die Abteilungsleitung, Amtsleitung, das Innenministerium und zuletzt noch für die Kräfte oder Technik beisteuernden Stellen und für örtlich zuständige Dienststellen kopiert und verteilt. Liebling, der Leiter der Sonderkommission hat sich drei Tage vor dem Einsatz zu einem wichtigen Termin verabschiedet und der Hauptsachgebietsleiter ist plötzlich an einer schweren Erkältung erkrankt. So kommt es, dass der junge Kommissar Bokolic am Morgen des Einsatztages vor fast hundertvierzig Kriminalbeamten, fünfzig Schutzpolizisten und drei Staatsanwälten das Einsatzkonzept vorträgt, und mit Overheadfolien die Ziele der Durchsuchungen und die Besonderheiten der einzelnen betroffenen Objekte und Personen erläutert. Danach reiten die Durchsuchungstrupps vom Hof, um zur festgelegten Zeit mit allen Durchsuchungen zu beginnen. Derweil sitzen die Staatsanwälte zusammen mit Bokolic und Helmuth in dem zu einer Lagezentrale aufgemöbelten Büro protokollieren, sortieren und bewerten eingehende Meldungen. Gegen Mittag sind zwei Drittel der geplanten Durchsuchungen abgeschlossen. Während Helmuth Durchsuchungsprotokolle samt Asservatauflistungen und Asservaten entgegennimmt, überprüft und archiviert, kümmert sich Bokolic in Zusammenarbeit mit den Staatsanwälten um Steuerung und Koordination der Trupps über Funk, Anfragen zum Prozedere bei Zufallsfunden, zur Relevanz von möglicherweise wichtigen Beweismitteln und deren Sicherstellung sowie zu Anfragen über Personen, deren Erstvernehmung, deren Vorladung zu einem späteren Termin oder deren Vorläufige Festnahme oder Erkennungsdienstliche Behandlung.

 

Urkundenfälscher im gerichtlichen Auftrag

 

So ganz nebenbei haben Bokolic, Helmuth und Manu sichergestellte Dokumente ausgewertet, verdächtige Urkunden mit den unterschiedlichsten Aufträgen zur Kriminaltechnischen Untersuchung gegeben, sei es zum Vergleich der verwandten Schrifttypen mit sichergestellten Schreibmaschinen; sei es auf Untersuchung bei der Ausstellung verwandten Papiers, der Schreibmaterialien, Stempelfarben und sonstiger Besonderheiten, wie der Verwendung von Tipp-Ex oder Tintenkiller. Ebenso werden die Siegel- und Stempelabdrucke auf Fälschungsmerkmale wie Retuschespuren, Deckungsgleichheit und gleich gelagerte Abdruckspuren untersucht. Durch den Vergleich aller Urkunden untereinander, insbesondere, wenn sie eine Person betreffen, können weitere Schlüsse auf deren Echtheit oder Fälschung geschlossen werden. Zu guter Letzt liegen mehrere zweifellos echte Urkunden vor, die nach Bokolics Bewertung als „Mutterurkunden“ zur Herstellung der falschen Stempel und Siegel dienten. Zwei dieser Urkunden stammen aus dem Besitz des Urkundenfälschers Eidelmann, zwei weitere wurden bei Popela sichergestellt, weitere sind unklarer Herkunft, da sie keinen Bezug zu ihren Besitzern haben. Nachdem die Akten mit Gutachten erstellt sind, werden Beschuldigte zur Vernehmung vorgeladen. Der Vorladung kommen nur fünf der Vorgeladenen nach. Alle anderen Briefe kommen mit dem postalischen Vermerk „Empfänger unbekannt verzogen“ zurück. Während die Staatsanwälte, in Übereinstimmung mit den Rechtsanwälten, die nicht scharf sind auf das magere Pflichtverteidigerhonorar bei weiterer gerichtlicher Verfolgung, die fünf Fälle der geständigen Beschuldigten im Strafbefehlsverfahren erledigen, ist Helmuth auf der Suche nach Unbekannt Verzogenen und Bokolic mit der Fertigung eines Schlussberichtes in Sachen des noch immer einsitzenden Urkundenfälschers Eidelmann beschäftigt.

 Wieder Monate später wird Bokolic als letzter Zeuge, nach dem Gutachter zur richterlichen Vernehmung in der Strafsache Eidelmann vor dem Landgericht aufgerufen. Der Vorsitzende Richter stellt nach Angaben zu seiner Person nur wenige Fragen, überwiegend zu dem Ablauf der Durchsuchung und der Art der Feststellungen zu den inkriminierten Urkunden. Der Staatsanwalt hat vorerst keine Fragen, lediglich der Verteidiger des Angeklagten kommt bei seinem Fragerecht ganz groß in Fahrt. Er betont dabei, der Gutachter habe auf Befragen selbst nur ausgesagt, dass es sich bei den zur Rede stehenden Urkunden um Fälschungen handeln dürfte, jedoch den endgültigen Beweis dafür sei er schuldig geblieben. Auch seien die Urkunden in den Verwaltungsakten lediglich als Kopien aufgetaucht. Wieso jetzt der Zeuge Bokolic dazu komme, diese nachgewiesenermaßen als Fälschungen darzustellen, sei ihm unerklärlich. Der Zeuge Bokolic sei in höchstem Maße unglaubwürdig und außerdem befangen. Bokolic antwortet an den Vorsitzenden Richter gewandt, er habe in seiner Zeugenaussage keinerlei eigene Meinung geäußert, sondern nur Fakten aufgezählt, und er sei durchaus in der Lage diese Fakten im Gerichtssaal weiter zu belegen. Sich an den Verteidiger wendend, fordert er diesen auf, einen oder mehrere der bezweifelten Beweise zu benennen, damit er den erhobenen Zweifel widerlegen kann. Dem Vorsitzenden Richter geht dieses Geplänkel zwischen Verteidiger und Zeuge offensichtlich zu weit. Er bittet Staatsanwalt und Verteidiger an seinen erhöhten Tisch und verkündet nach kurzer Erörterung die Unterbrechung der Sitzung, steht auf und verlässt mit Beisitzern den Saal. Staatsanwalt und Verteidiger werden zum Gericht in das neben dem Saal befindliche Beratungszimmer gerufen, in das kurze Zeit später auch Bokolic von dem Saaldiener geführt wird. Der Vorsitzende fragt Bokolic, wie er denn beweisen könne, dass die inkriminierten Urkunden tatsächlich falsch sind. Bokolic verweist auf die Beweismittelakten und Beweismittel und erklärt, er werde mithilfe eines Fotokopiergerätes, der in der Wohnung des Eidelmann sichergestellten Schreibmaschine und der im Zuge der Durchsuchungen sichergestellten Abdrücke von Siegeln und Beglaubigungsstempeln gerne eine russische Urkunde fälschen. Einer der Beisitzer ist Grafiker. Dessen Fürsprache verdankt es Bokolic, dass nach dem Ende der Sitzungsunterbrechung ein weiterer Tisch vor dem Hohen Gericht aufgebaut ist, daneben steht ein Kopiergerät. Um den gesamten Fälschungsvorgang authentischer zu gestalten, sind Stempel, Stempelkissen, Papier und Schreibgerät aus den Asservaten herbeigeschafft worden. Die anwesende Dolmetscherin tippt den Urkundstext auf das Papier, danach drückt der Verteidiger die Stempelformen auf das Stempelkissen und sodann unter den Urkundstext. Bokolic darf sich ebenso als Urkundenfälscher betätigen und leistet mit diversem Schreibgerät die notwendigen Unterschriften. Derweil sehen der Vorsitzende Richter und die Beisitzer von ihrem erhöhten Sitz dem ungewöhnlichen Treiben zu. Zum Abschluss legt Bokolic die soeben gefertigte Urkunde auf den Fotokopierer, kopiert sie einmal, danach kopiert er, nach lauthals geäußerter Meinung des Verteidigers, überflüssigerweise die Kopie der Kopie und auch diese noch einmal. Von all diesen Exemplaren zieht Bokolic nun noch Klarsichtfolien über den Kopierer. Nun liegen nebeneinander die Fälschung einer russischen Urkunde, deren Kopien und die zugehörigen Folien auf dem Tisch, daneben legt Bokolic die „Mutterurkunde“ und mehrere weitere von Bokolic als echt erachtete Urkunden. Dann beginnt ein lebhaftes Frage- und Antwortspiel, an dem sich neben Bokolic das Gericht genau so lebhaft beteiligt, wie Verteidigung und Staatsanwaltschaft. Mit einer beleuchteten Lupe in der Hand zeigt Bokolic die Fakten auf, die vom Verteidiger in Zweifel gezogen werden. Hierbei zitiert er immer wieder aus Vermerken und Berichten in den Akten. Es ist durchaus zutreffend, dass Größe der Stempel und Siegel auf Kopien von der Mutterurkunde minimal abweichen. Dies ist technisch bedingt. Vergleichen sie hierzu die in Vermerkform niedergelegten und von Herstellern der Kopierer bestätigten Maßdifferenzen. Ein Kopiervorgang verkleinert die Vorlage etwas. Durch Auflage der Folien können sie dies selbst nachvollziehen. Somit ist der von dem Rechtsanwalt vorgetragene Größenunterschied zwischen Original und in den Verwaltungsakten sichergestellten Kopien irrelevant. Weiter sind die Fehler im Buchstabenabdruck bei mehreren Buchstaben sowohl in den Fälschungen als auch in den Kopien unter der Lupe deutlich sichtbar. Diese Fehler sind der bei diesen Fälschungen benutzten Schreibmaschine zuzuordnen. Eine derartige Übereinstimmung von deckungsgleichen fehlerhaften Abdrücken bedeutet laut dem vorliegenden Gutachten, dass diese „Urkunden“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der bei dem Angeklagten Eidelmann sichergestellten Schreibmaschine gefertigt wurden. Anhand der echten Urkunden belegt Bokolic noch die Irrelevanz des Einwandes der Verteidigung, es könne ja durchaus sein, dass bei Auslandsurkunden die erstaustellenden Notariate einen Blockstempel benutzen, der alle Beglaubigungsstempel und Siegel beinhalte und in den nach Anbringen dieses Blockstempels nur noch an den entsprechenden Stellen die Unterschriften der zuständigen Beamten der einzelnen Behörden mit Datum der Unterschrift eingefügt werden. Während die Dolmetscherin dem Angeklagten Eidelmann alle diese Vorträge geduldig übersetzt, kann sich dieser beim letzten Vortrag seines Verteidigers ein lautes Lachen nicht verkneifen. Danach gibt sich der Verteidiger entnervt geschlagen. Es folgt das Plädoyer des Staatsanwalts, das Schlusswort der Verteidigung und dann das des Angeklagten. Nach längerer Beratung wird Eidelmann wegen Urkundenfälschung in ... zig Fällen und wegen der Verstöße gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die wegen ihrer Höhe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Nach dem Urteilsspruch stößt er in ukrainischer Sprache wilde Morddrohungen gegen Bokolic aus, die von der Dolmetscherin erst später zu Protokoll gegeben werden. Gut zwei Jahre später: Bokolic hat längst ein neues Betätigungsfeld gefunden und denkt nur noch ab und zu an die Zeit in der absonderlichen SOKO zurück. Da wird er spät abends zu Hause durch einen Anruf an alte Geschichten erinnert. Die für den Wohnort Bokolic’s zuständigen Schutzpolizisten stoppen in der Nähe seiner Wohnung einen Exilrussen namens Eidelmann auf einer Trunkenheitsfahrt und setzen ihn fest, weil dieser nicht nur betrunken am Steuer seines Autos sitzt, sondern auch im Besitz einer scharfen Schusswaffe ist und aussagt, er sei unterwegs um eine „alte Angelegenheit“ zu regeln. Bei der Überprüfung seiner Personalien stellen die Beamten fest, dass diese alte Angelegenheit wohl etwas mit ihrem Kripokollegen Bokolic zu tun haben könnte. Ganz unumwunden gibt Eidelmann bei späterer Befragung an, es sei richtig, dass er eine seiner Meinung nach noch offene Rechnung bei Bokolic begleichen wollte. Dies habe er nur wegen des übersteigerten Alkoholgenusses in den Sinn bekommen. Die Quittung für die Rachegelüste ist eine erneute empfindliche Freiheitsstrafe. Damit ist das Kapitel „Russische Methoden“ für Bokolic endgültig abgeschlossen, sieht man von den wenigen Ersuchen Rat suchender Kollegen ab, die sich immer wieder mit den Phänomenen auseinandersetzen müssen.

 

Der König der Taschendiebe und die professionelle Umverteilung des Eigentums

Kurzinhalt

Die Ausreise aus der Sowjetunion schildert Elikov, der König der Taschendiebe wie folgt: Kurz vor der Ausreise wird er in ein Gulag in der Südukraine überstellt. Im Laufe der Jahre hat die Lagerleitung zusammen mit den einsitzenden Schwerkriminellen in wahrhaft sozialistischer Weise ein professionelles System der Umverteilung des anfallenden Fleisches zum Nachteil des Fleischtrustes installiert. Irgendwie wird dies jedoch der Staatssicherheit bekannt. Danach werden alle aufgefordert, eine Wahl zu treffen. Entweder Verbannung in ein Lager in Kamtschatka - oder Ausreise nach Israel. Das Lager hat sich geschlossen für die Auswanderung nach Israel entschieden. Als die Gruppe in Wien ankommt, werden die Hintergründe der Zwangsaussiedlung einem Sicherheitsbeamten gesteckt. Elikov wird mit einigen echten Juden auf freiem Fuß belassen und gelangt über Italien in die Bundesrepublik Deutschland, wo er danach mit seinen Kumpanen an der Umverteilung kapitalistischen Kapitals arbeitet.

 

Der König der Taschendiebe

 

Wohl nur durch einen dummen Zufall hat ihn sein Wohnungsgeber nach unbekannt abgemeldet, obwohl er die Miete für sein Apartment regelmäßig überweist. Gestern wird nun, aufgrund staatsanwaltschaftlicher Fahndung der nun Wohnsitzlose wegen Verdachts des Gebrauchs von Falschurkunden festgenommen. Die Falschurkunden waren von dessen Rechtsbeistand in seinem Verwaltungsverfahren auf Anerkennung als Flüchtling und Vertriebener aus der Sowjetunion bei der Behörde vorgelegt worden. Der Mann wird mir aus dem Polizeigewahrsam vorgeführt. Sein Vorstrafenregister weist drei Verurteilungen in der Bundesrepublik Deutschland auf, daneben sind fünfmal so viele Urteile aus anderen Staaten Westeuropas aufgelistet, allesamt wegen gemeinschaftlichen Trickdiebstahls. Seine Mannschaft gilt nach Interpol als eine der besten Taschendiebscrews osteuropäischer Herkunft. Elikov trägt einen modischen Straßenanzug, der die italienische Herkunft höchster Preisklasse genauso wenig verleugnen kann, wie die exquisiten Schuhe. Von seinem äußeren Erscheinungsbild, wie von seinem Gehabe her würde ich in ihm eher einen gediegenen ausländischen Geschäftsmann oder gehobenen Manager vermuten als einen Taschendieb. Die prozessualen Präliminarien sind schnell geklärt. Elikov hat bereits am gestrigen Abend seinen Rechtsanwalt in München von seiner Festnahme und dem Grund der Festnahme unterrichtet. Bis zu dessen Ankunft in Offenbach verbleibt noch etwas Zeit, sodass es nach einer kleinen Schnupperphase recht schnell zu einer allgemeinen Erörterung seiner Lebensgeschichte kommt. Dies scheint ihm regelrecht Freude zu bereiten, nachdem ihm klar geworden ist, dass ihm, wohl zum ersten Male, von der Polizei kein Diebstahl und keine Diebstahlsserie vorgehalten werden. Er erzählt in flüssigem Deutsch mit dem Akzent eines Mannes, der aus einer der kaukasischen Republiken stammt, von seiner Herkunft und seiner Jugend in der Sowjetunion, wie auch von seinem Leben nach der Übersiedelung in den Westen. Auch als sein Anwalt erscheint, unterbricht er seine Erzählung nur kurz. Er bespricht sich mit seinem Anwalt auf dem Flur und bedeutet diesem energisch, er solle eine entsprechende Erörterung mit dem Staatsanwalt zu dem Schuldvorwurf im Haftbefehl vornehmen. Danach wendet er sich wieder mir zu und erzählt seine Geschichte wie folgt: Er wird als Sohn russischer Bergjuden in der autonomen Region Biro-Bidjan im Kaukasus geboren. Bergjude als Herkunftsnationalität deshalb, weil Mutter und Vater aus Bergkarabach stammen. So ist dies in seiner echten Geburtsurkunde eingetragen. Sein Vater und dessen Brüder haben, wie sein Großvater und Urgroßvater und deren Brüder, das Handwerk des Gauklers und Trickkünstlers, auch des Taschendiebs, auf den Märkten und Festen im Kaukasus bis hinunter zum Schwarzen Meer ausgeübt. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges ist er in den Weiten der Steppe von Kasachstan zusammen mit anderen dorthin Verbannten von seinem Vater in diesem traditionellen Kunsthandwerk unterrichtet worden und hat alle Prüfungen mit Bravour bestanden. Die gleiche Schule hat ein nunmehr in Westberlin lebender Trickkünstler durchlaufen, der dort ein bekanntes Zaubertheater betreibt und ab und an vor laufenden Kameras zur Freude der Fernsehzuschauer einen Prominenten um Schlips, Kragen, Uhr und Brieftasche erleichtert. Nach dem Krieg ist es mit dem ehrbaren Handwerk vorbei. In späteren Jahren wird Elikov, zur Umerziehung in ein Arbeitslager gesteckt. Im Gegensatz zu vielen Kriminellen, die als gemeine Diebe, Räuber oder Totschläger verurteilt, ihre Karriere, im Verbund der Leidensgenossen organisiert, auch im Lager fortsetzen müssen, und die sich nie mehr aus diesem Teufelskreis der Rohheit und Gewalt untereinander lösen können, wird er ohne Nachweis von deliktischem Handeln in das Lager gesteckt. Dort wird er von den Anführern der Cliquen als König und Ausbilder der Taschendiebe akzeptiert und geachtet. Damit ist er auch nicht gezwungen, sein Überleben durch rohe Gewalt oder Unterwerfung zu sichern. Während der Erzählung beugt er sich mehrmals über den Schreibtisch zu mir herüber, auch steht er zweimal kurz auf, geht um den Schreibtisch herum, um Bokolic in den Akten die eine oder andere Urkunde zu zeigen.

 

Die professionelle Umverteilung im Sowjetstaat

 

Die Ausreise aus der Sowjetunion schildert Elikov wie folgt: Kurz vor der Ausreise wird er in einen Gulag in der Südukraine überstellt, in dem eine Vielzahl von Gewaltkriminellen innerhalb des Fleischtrustes von Odessa alle in dem Schlachthof anfallenden Arbeiten erledigen. Mit den dazugehörenden Aufgaben der Fleischverteilung, den schriftlichen Arbeiten und der „Buchhaltung“ werden die wegen sozialschädlicher Wirtschaftsdelikte Einsitzenden unter Anleitung mehrerer zur Lagerleitung gehörender Geistesarbeiter betraut. Im Laufe der Jahre hat die Lagerleitung zusammen mit den Anführern der einsitzenden Schwerkriminellen in wahrhaft sozialistischer Weise ein sehr professionelles System der Umverteilung des anfallenden Fleisches zum Nachteil des Fleischtrustes installiert. Irgendwann und irgendwie wird dieses kriminelle System jedoch den Institutionen der Staatssicherheit bekannt. Danach werden alle Beteiligten einschließlich der Lagerleitung aufgefordert, eine Wahl zu treffen. Entweder lebenslängliche Verbannung in einem Lager jenseits des Urals in allgemeiner Richtung Kamtschatka - oder Ausreise nach Israel unter der Prämisse, dass hierfür erforderliche Abstammungsurkunden von den Behörden bereitgestellt werden. Hierzu führt Elikov an, dass nicht einmal zwanzig Prozent der Betroffenen tatsächlich jüdischer Herkunft gewesen seien. Jedoch ist durch die Bezahlung der Ausbildungskosten solch Ausreisewilliger durch die israelische Immigrantenorganisation, die Sochnut, der von den Ausreise-(un)-willigen verursachte Schaden am kommunistischen Fleischeigentum mehr als ausgeglichen worden. Jedenfalls haben sich Lagerinsassen und Bewacher geschlossen für die Auswanderung nach Israel entschieden. Erst als die Gruppe, gemeinsam ausgeflogen, in Wien-Schwechat ankommt, werden die Hintergründe der Zwangsaussiedlung einem israelischen Sicherheitsbeamten gesteckt. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, werden alle tatsächlichen Gewaltverbrecher sowie Mitglieder des ehemaligen Bewachungspersonals geschlossen nach Israel ausgeflogen, dort vor Gericht gestellt und erneut inhaftiert. Elikov jedoch wird mit den wenigen echten Leidensgefährten als Jude und sowjetisch Verfolgter auf freiem Fuß belassen und gelangt später auf dem Weg über Italien und die Niederlande in die Bundesrepublik Deutschland.

Elikovs Bahnreisende GbR

 

Hier trifft er drei ihm bereits bekannte Berufskollegen aus Osteuropa, mit denen er zum Zwecke der gemeinsamen Bahnfahrten im westlichen Europa die Elikov GbR gründet. Als Betätigungsfeld wählt sich die Elikov GbR die international auf dem westeuropäischen Kontinent verkehrenden Schnellzüge und Bahnhöfe. Nach einigen bitteren Erfahrungen mit mehr als harten Pritschen und Haftbedingungen in Italien, Frankreich, Belgien und Österreich, und nach hinreichender Aufklärung durch entsprechend Rechtskundige, entschließt sich die Elikov GbR ihr Betätigungsfeld nur noch auf Schnellzugpaare entlang des deutschen Rheins zu beschränken, weil Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland für Leute seiner Herkunft immer ein Faible haben, und die Gefängnisse hier nach seiner Meinung mit mindestens fünf Sternen ausgezeichnet werden müssten. Als Lebens- und Wirkungsmittelpunkt wählen Elikov und die Seinen die Städte Offenbach Frankfurt und Aachen. Elikov vereinbart eine Zusammenarbeit mit einer internationalen russischen Organisation, die von einer, ehemals in einem sowjetischen Lager ausgebildeten, „Al Capone KG“ mit Sitz in Manhattan geleitet wird. Stopper, Zieher, Fänger und Decker der Elikov GbR behalten das meist von betuchten Geschäftsleuten in den Schnellzügen bezogene Bargeld. Die als Abfall mitgegriffenen Kreditkarten und Personalpapiere werden auf Zugtoiletten bis zum Ende der Reise deponiert. Anschließend werden diese von dem Decker der Gruppe am Zielbahnhof in einem bereits an die „Al Capone KG“ adressierten und frankierten Kuvert nach Manhattan versandt. Als Dankeschön für diese Geschenke hat die „Al Capone KG“ bei einem bekannten Münchener Rechtsanwalt für jeden der Gruppe einen Vorschuss von 50.000,-- DM für den schlimmsten Fall der Fälle hinterlegt. Die gesamten Rechtsanwaltskosten werden laut Vereinbarung von der „Al Capone KG“ in Manhattan ebenso getragen, wie Versorgung der Familienangehörigen bei längerer „berufsbedingter Abwesenheit“ von der Arbeit. Auf Nachfrage gibt Elikov recht stolz an, dass er mit seiner Truppe, die aus bis zu fünf Leuten besteht, auf einer Bahnfahrt zwischen Frankfurt am Main und Basel im Schnitt pro Kopf 10 bis 15.000,--DM an Devisen und Reiseschecks an Land zieht. Man beschränkt sich auf das Wesentliche. Es werden nur wirklich potente Kunden angegangen, die er persönlich aufgrund seiner Erfahrung ausgesucht hat. Kleinere Geschäfte interessieren nicht. Das Bahnhofs- wie auch das Messegeschäft überlässt die Elikov GbR den eigens zu diesen Höhepunkten einfallenden Gruppen aus Südosteuropa und Südamerika. Er ist für Risikominimierung, die sich auf Bahnfahrten automatisch ergibt, da Reisende sich im Zug relativ sicher fühlen und keine berufsmäßig auf solche Geschäfte angesetzte Observanten und andere Sicherheitskräfte zu befürchten sind. Zu den einzelnen Aufgaben seiner Leute erklärt er ebenso freimütig Er selbst ist der einzige Zieher der Gruppe, das heißt, er wählt den Kunden aus und gesellt sich unauffällig zu ihm. Der Stopper oder Ablenker hat in einem geeigneten Moment alle Aufmerksamkeit des Kunden auf sich zu ziehen. Er muss im Zugabteil in gewisser Distanz zu dem Kunden bleiben. Meist genügt es, durch verbale Auseinandersetzungen mit unbeteiligten Dritten, den Kunden abzulenken. Nur im Gedränge darf er den Kunden anrempeln oder auch auflaufen lassen. Dann kommt Elikovs Einsatz, der nahtlos und blitzschnell nach dem Ziehen zur Übergabe der Ware an den Fänger führt. Dieser verschwindet mit der Ware sofort aus dem Blickfeld aller Anwesenden. Der Decker ist derjenige, der vor, während und nach jeder Transaktion das Umfeld und die Reaktion des Kunden prüft und erst nach geraumer Zeit wieder zur Gruppe stößt. So lässt sich zwischen zwei Haltestellen nicht mehr als eine Transaktion bewerkstelligen, diese jedoch mit größtmöglicher Sicherheit. Die Auswahl der Waggons und der Abteile, in denen eine Transaktion stattfinden soll, ist gleichfalls von größter Bedeutung für das Betriebsergebnis und die Sicherheit der Crew. Wagen an der Spitze oder am Ende des Zuges sind entweder ganz zu meiden oder erst kurz vor Reiseende aufzusuchen, weil die Möglichkeiten des Auseinandergehens nur in einer Richtung bestehen. Speise- und Barwagen hingegen bieten zu den Zeiten, zu denen sie voll frequentiert werden, die besten Zugriffsmöglichkeiten. Zu den fraglichen Urkunden, die aus dem kaukasischen Juden und Taschendieb Elikov einen Bergbauingenieur mit einem deutschen Vater machen sollten, gibt er freimütig die Erklärung ab, dass diese Urkunden über die „Al Capone KG“ besorgt wurden und ohne Wissen des Elikov zu seinem Antrag bei der Behörde vorgelegt wurden. Die Durchsuchung der angeblich aufgegebenen Wohnung des Elikov ergibt zweifelsfrei, dass dessen persönliche Habe sich noch dort befindet. Der Vermieter bestätigt nach Rückfrage den verspäteten Eingang der letzten Mietzahlungen. In der Wohnung werden alle echten Personenstandsurkunden des Elikov sichergestellt, die dessen Angaben über seinen Lebensweg bestätigen. Nachdem alle Angaben protokolliert sind, besteht weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr mehr.

 

Der russische Urkundenfälscher der AL Capone KG

 

Lediglich die Frage nach dem Urkundenfälscher bleibt offen. Auf dieses Problem angesprochen ist der höfliche Elikov bemüht, dem ebenfalls freundlichen Polizisten weiterzuhelfen, soweit er das kann und darf. Er erklärt nicht genau zu wissen, woher die Urkunden kommen, ist aber der Meinung, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hier in Deutschland gefälscht werden. Er sagt, dass er über die Preisgabe der Identität des Fälschers nicht bestimmen kann, will jedoch mit den Chefs der „Al Capone KG“ darüber beraten. Dies sei zurzeit nicht möglich, da sich die Chefs als Sponsoren mehrerer amerikanischer Boxer bei der jetzt laufenden Boxweltmeisterschaft in Belgrad aufhielten. Dort habe die „Al Capone KG“ auch ihre Interessen zu vertreten und es müssten eine Reihe jugoslawischer Papiere bei diesem Besuch besorgt werden. Zwischenzeitlich hat sich der Rechtsbeistand des Elikov mit dem Staatsanwalt darauf verständigt, den existierenden Haftbefehl gegen Zahlung einer Kaution außer Kraft zu setzen. Zwischen dem Münchener Rechtsbeistand und dem Staatsanwalt werden noch Ermittlungsstand und Ermittlungsrichtung im Groben besprochen. Der Rechtsanwalt will sich bei den bekannten Chefs der „Al Capone KG“ für die Bekanntgabe der Identität des Fälschers einsetzen. Daraufhin wird mit Zustimmung des Staatsanwaltes Elikov in die Freiheit entlassen. Er bedankt sich artig bei Bokolic und schüttelt ihm mehrmals die Hand. In der Tür angekommen, dreht er sich um und fragt lächelnd, ob Bokolic denn überhaupt nichts vermisse. Er kommt zum Schreibtisch zurück und leert den Inhalt seiner Anzugstaschen aus. Neben Armbanduhr, Dienstmarke nebst Kette, dem Schlüsselbund und der Brieftasche hat er noch einige Dienstgegenstände wie Kugelschreiber, Memocord und Telefonnotizbuch an sich gebracht. Weder Bokolic selbst noch einer der Kollegen hat von der ungewollten Besitzübertragung bei der Vernehmung und danach etwas bemerkt. Bokolic versteht dies als eine Abschiedsgeste des Königs der Taschendiebe und begleite ihn höflich aber sehr aufmerksam zur Tür. Bokolic´s Wege haben in seinem weiteren Berufsleben nie mehr die Wege des Königs der Kaukasischen Taschendiebe gekreuzt. Wenige Wochen nach der Begegnung mit Elikov wird Bokolic in einem Telefonat mit dessen Rechtsbeistand ausgerichtet, dass es die Chefs der „Al Capone KG“ nicht im Geringsten berührt, wenn ein deutscher Kriminalbeamter wegen eines Fälschers russischer Urkunden ermittelt, soweit und solange ihre Geschäfte davon nicht beeinträchtigt werden. Es mag ein Jahr später sein. Nachdem das gesamte Mobiliar eines Klubs russischer Emigranten in Charlottenburg durch Zugehörige des Clans des Betreibers Popela mithilfe gestohlener Kreditkarten bezahlt sind, werden am Flughafen Tempelhof die ersten Kuriere aus den USA mit gestohlenen Kreditkarten und Personalpapieren festgenommen. Monate später geht ein anonymes Schreiben an mehrere Berliner Behörden, in dem ein russischer Emigrant, ehemals von Beruf Schuhmacher, als Fälscher russischer Personenstandsurkunden und Ausreisevisen bezeichnet wird. Kurze Zeit später wird der Fälscher- und Verteilerring dieser Urkunden zerschlagen. Der Schuster, der nach gerichtlicher Feststellung mehr als 3,5 Millionen DM mit diesen Fälschungen verdient hat, wird zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nur ein geringer Teil des Erlöses aus seinen Geschäften wird sichergestellt. Aus Strafhaft wird der Schuster von Beamten einer nicht genannten Westalliierten Dienststelle abgeholt und verschwindet nach Amerika, wo er wohl im Auftrag dieser Dienststelle weiter russische Urkunden fälscht. In Manhattan soll er noch heute von Ersparnissen leben und ab und zu noch für die „Al Capone KG“ tätig sein. In diesem Jahr werden vom Berliner Innensenator auf eine Anfrage aus dem Abgeordnetenhaus die Schleusung russischer Emigranten und deren bevorzugte Deliktsfelder, erstmalig der organisierten Kriminalität zugerechnet.

 

Zwischen den Fronten des Kalten Krieges

Alliierte und ihre Spielchen in Berlin

 Beim seinem ersten Dienstbesuch ist neben weiteren Ermittlungen auch die Vernehmung eines ehemals russischen, jetzt Westberliner Taxifahrers zu seinen bereits als falsch erkannten Urkunden angesetzt. Der Beschuldigte erscheint auf Vorladung pünktlich in einem Dienstgebäude der Kriminalpolizei in der Keithstraße. Im Vorgespräch wird bald klar, dass der Beschuldigte, des ganzen Verfahrens überdrüssig, bereit ist, zu den Urkundenfälschungen wie auch zu den Hintergründen etwas auszusagen. Da sich die weitere Erörterung der Verfahrensweise und der möglichen Zugeständnisse im Falle einer umfassenden Aussage etwas schwierig gestalten, weil der Beschuldigte dem hinzugezogenen Dolmetscher offensichtlich misstraut, wird für den nächsten Morgen ein neuer Termin vereinbart, zu dem ein russisch sprechender Kollege der Berliner Polizei zur Verfügung steht. Am nächsten Morgen erscheint der russische Klient zur angegebenen Zeit. Der Staatsanwalt hat kaum mit der Begrüßung geendet, da entsteht draußen auf dem Flur ein heftiger Disput. Bokolic schaut durch die spaltbreit geöffnete Tür und erkennt den Inspektionsleiter und Kommissariatsleiter, die sie beim Eintreffen begrüßt haben. Sie stehen mit dem Rücken zur Tür, so als wollen sie den anderen Personen den Zutritt verwehren. Auf der rechten Seite des Flures stehen zwei Uniformträger, die nach ihrer Uniform zu urteilen, der für diesen Bezirk zuständigen Westalliierten Schutzmacht zuzurechnen sind, ihnen gegenüber auf der linken Seite der Tür mehrere Uniformträger mit Tellermützen, die ebenso unschwer als Vertreter der osteuropäischen Schutzmacht Berlins zu erkennen sind. Zwischen den Gruppen findet ein erregter Wortwechsel statt, der, überwiegend in Englisch geführt, Bokolic erkennen lässt, dass Ost wie West die sofortige Auslieferung des russischen oder exilrussischen Bürgers verlangen, um ihn vor dem Einfluss der bundesdeutschen Agenten in Sicherheit zu bringen. Bokolic zieht die Tür wieder vorsichtig zu und erstattet drinnen Bericht. Bevor der Streit mit der Auslieferung des aussagewilligen Klienten, an welche Seite auch immer, enden kann, hat einer der Berliner Kollegen die Betroffenen durch zwei Zwischentüren bis ans Ende des langen Flures und danach über eine Nebentreppe zum Keller gebracht. Auseinandersetzungen zwischen den Schutzmächten scheinen ihm nicht neu zu sein. Sie warten geduldig, bis er mit seinem Privatwagen an der Kellertür vorgefahren ist, steigen eiligst ein und können eine knappe Stunde später die Vernehmung mit dem Klienten in einer Dienststelle im Zuständigkeitsbereich einer dritten neutraleren Schutzmacht fortsetzen. Am Tage danach wird berichtet, dass die Tellermützen schließlich wutentbrannt, unter endlosem Protest aber unverrichteter Dinge, die Dienststelle verlassen haben. Die Vertreter der zuständigen Sektorbesatzungsmacht haben, nach Besichtigung der leeren Diensträume gleichfalls etwas düpiert das Feld geräumt. Der Dolmetscher von tags zuvor, dem man dieses Spiel wohl zu verdanken hat, kommt auf die schwarze Liste und wird hinfort als unzuverlässig von amtlichen Aufträgen der Berliner Polizei ausgeschlossen. Während der Klient sich zu seinen Urkunden und seinen Verhältnissen umfassend äußert, macht er zu den Hintergründen vorerst nur außerhalb seiner Vernehmung sehr allgemein gehaltene Angaben. Er erläutert, dass es sich bei den Vermittlern von falschen Ausreisevisen, wie auch falschen Urkunden um eine international arbeitende Organisation handelt. Einmal sei dies ein Teil der Mafia, der sich schwerpunktmäßig in Moskau und Petersburg betätige. Darüber hinaus gebe es noch die baltische Connection sowie eine Gruppe aus ukrainischen und georgischen Kriminellen. Alle diese Gruppierungen seien in den westeuropäischen Staaten in unterschiedlichen Maßen vertreten. Als Schwerpunkte nennt er Ost- und Westberlin, Italien mit dem Zentrum Ostia Lido bei Rom aber auch Mailand, die Beneluxstaaten mit Antwerpen, Amsterdam und Brüssel, in Deutschland Frankfurt, Offenbach, Aachen und Bremen. Gute Kontakte bestünden auch in die Einwanderungsländer wie Israel, Kanada und Australien sowie die Vereinigten Staaten. So sei es nicht verwunderlich, dass die Urkunden von vorneherein für die unterschiedlichen gewünschten Zielländer gefälscht würden. In den genannten Ländern würden bestimmte Voraussetzungen auch berufliche verlangt. Danach müsse sich die Organisation richten. Zu einzelnen Personen, die in die Vorgänge involviert seien, wie auch zu dem oder den Urkundenfälschern schweigt er beharrlich. Er verspricht lediglich dafür Sorge zu tragen, dass der Urkundenfälscher, der die meisten Urkunden und Visen, darunter auch seine, unters Volk gebracht habe, seine gerechte Strafe finde. Etliche Wochen später wird Bokolic von Kollegen aus Berlin der Eingang eines anonymen Schreibens gemeldet, in dem ein emigrierter russischer Schuhmachermeister und seine Gattin als Visa- und Urkundenfälscher bezeichnet werden. Das Schreiben ist über Sozialbehörden letztlich bis zur Polizei gekommen. Der Urkundenfälscher wird festgenommen, Wohnung und Werkstatt durchsucht und eine Vielzahl von Beweismitteln sichergestellt. Kurze Zeit später werden weitere Mitglieder des Fälscher- und Verteilerrings gleichfalls festgenommen. Der Schuster, der nach gerichtlicher Feststellung mehr als drei Millionen mit den Fälschungen verdient hat, wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Jedoch nur ein geringer Teil des Erlöses aus seinen Geschäften kann sichergestellt werden.

 

Das neue Russische Roulette

 

Nach Zerschlagung des Fälscherringes sind Bokolic und sein Staatsanwalt wieder nach Berlin gekommen, weil sie sich Auskünfte von dem Informanten versprechen. Der Taxifahrer erscheint pünktlich auf der Dienststelle. Er weigert sich jedoch beharrlich, weiter ein Wort zur Sache auszusagen. Dafür erzählt er die Geschichte vom Neuen Russischen Roulette: Wenige Tage nach der Festnahme der Leute von der Moskau-Petersburger Mafia sprechen mich Leute aus diesem Kreis an. Sie drohen mir oder meiner Familie für den Fall einer Aussage bei der Polizei ernsthafte Konsequenzen an. Aus meiner Heimat weiß ich, dass man Drohungen solcher Leute ernst nehmen muss. Hier in diesem freien Land glaube ich jedoch, vor solchen Repressalien sicher zu sein. Deshalb sage ich den Leuten auch, sie sollen verschwinden. Daraufhin versprechen sie mir eine Belehrung und raten mir, ich solle mich bei meinen Freunden und Bekannten in Italien oder in Belgien erkundigen, was es mit dem Neuen Russischen Roulette für eine Bewandtnis hat. Dies tue ich zuerst als Unsinn ab. Doch bald werde ich eines Besseren belehrt. Seit dieser handfesten Belehrung liegt meine Frau verletzt im Krankenhaus und es ist durchaus möglich, dass sie nie wieder richtig gehen kann. Meine Bekannten erzählen mir danach, was sie über das neue Russische Roulette in Erfahrung bringen konnten. Ostia Lido ist Zentrum der Exilrussen wie auch aller Gruppierungen der Russischen Mafia in Italien. Der Moskauer Kreis hat beschlossen, eine in Russland mit anderen Spielregeln gespielte Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gruppen wie auch mit Verrätern in den eigenen Reihen einzuführen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Gruppen immer mehr an Schärfe zunehmen, aber auch einzelne Mitglieder ihre neue kapitalistische Freiheit ausnutzen, um auf eigene Rechnung zu arbeiten. Das Spiel wird einfach nach dem Vorbild des alten heimatlichen Spiels als „Neues Russisches Roulette“ bezeichnet. Wie aber nun wird dieses Spiel gespielt? Der Chef der Gruppierung, oder besser die Chefs, stellen zuerst das Opfer des Spiels fest. Sie erklären eine einzelne Person oder eine ganze Sippe als auserkorene Opfer. Die Schwere der Missetaten der Opfer gegen den Ehrenkodex, bei Außenstehenden gegen das Interesse des Clans, bestimmt gleichzeitig auch das Strafmaß. Leichte Vergehen führen zu einfachen Belehrungen, die Schrecken, schlimmstenfalls leichte Verletzungen nach sich ziehen. Schwerere Vergehen führen zu einer ersten ernsten Verwarnung, die mit meist mit einem bleibenden körperlichen Schaden des Opfers endet. Verrat innerhalb der eigenen Reihen oder Gefährdung der Interessen des Clans führen zu einer letzten Verwarnung, die, wie es das Wort „letzte“ schon sagt, gewöhnlich mit dem Tod des Opfers endet. Alle diese Spielzüge werden nach dem Spruch der Kommission vorher angesagt. Das Opfer kann entscheiden, ob es an dem Spiel, wie geschildert teilnehmen will, oder ob es, mit entsprechend tätiger Reue, eine abgemilderte Form der Strafe oder Befreiung von der Schuld erreichen will. Zum Vollzug der Spielzüge wird von der eingesetzten Kommission ein talentierter Nachwuchsgangster benannt. In der Regel handelt es sich hierbei um talentierte junge Nachwuchsgangster, die eine Ausbildung als professionelle Räuber und Totschläger absolvieren. Die berühmtesten und gefürchtetsten Spieler sind Tschetschenen, die an Disziplin, Kampfeswillen und Brutalität von keiner anderen Volksgruppe übertroffen werden. Die Spieler werden von italienischen Mafiosi zuerst in der Beherrschung von Fahrzeugen geschult. Diese Ausbildung umfasst sowohl die gebräuchlichsten Fahr-, Verfolgungs- und Fluchttechniken. Daneben werden Aufbrechen, Kurzschließen und Diebstahl der Autos, insbesondere der italienischen Marken Fiat und Lancia, aber auch deutscher Marken wie Mercedes und BMW gelehrt. Zum Schluss werden sie in der Kunst der gezielten Verursachung von Verkehrsunfällen, dem An- und Überfahren von Fußgängern, Zweiradfahrern sowie aussteigenden oder einsteigenden Autofahrern geschult. Auch werden Spurenvermeidung, Aussageverhalten und Fluchtverhalten geprobt. Spieler arbeiten bei Aufträgen der Kommission vollkommen unentgeltlich. Dafür erhalten sie vollen „Versicherungs- und Rechtsschutz“ ihr Leben lang. Bei Mordaufträgen Dritter, legen sie ihre Handgelder und Provisionen selber fest. An diesen Provisionen wird die Kommission auch beteiligt, da sie gewisse Vor- und Zuarbeiten, die Versorgung mit Dokumenten und Waffen, aber auch die Fluchtlogistik sicherstellt. Wieder zuhause angekommen beginnt Bokolic die Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. IP Rom teilte ein halbes Jahr vorher allen westeuropäischen Verbindungsbüros bereits mit, dass in Norditalien eine Häufung von tödlichen Verkehrsunfällen mit gestohlenen schnellen Pkws zu verzeichnen war. Bei den bisher fünfundvierzig Opfern handelte es sich überwiegend um russische Emigranten, die allesamt im Verdacht standen organisierten Banden anzugehören. Lediglich in zwei Fällen wurden die flüchtigen Täter ermittelt, die das zuvor gestohlene Tatfahrzeug in unmittelbarer Nähe des Unfallortes zurückließen. Bei beiden Tätern handelte es sich nach den Erkenntnissen der italienischen Polizei um mögliche Angehörige der Moskauer Russenmafia. Bei inoffizieller Nachfrage wird Bokolic von einem ihm bekannten Carabinieri mitgeteilt: Die Inhaftierten machen keinerlei Angaben zur Sache.  Sie werden, zusammen mit einem italienischen Rechtsanwalt, von einem vorwiegend diesen Klientenkreis betreuenden Rechtsanwalt aus München vor Gericht vertreten. Der Rechtsanwalt ist Bokolic bereits durch die Geschichte mit dem König der Taschendiebe bekannt geworden. Im gleichen Jahr sterben in Berlin zwei Exilrussen auf ähnliche Weise. Weitere Unfallopfer gibt es in München, Brüssel und im deutsch niederländischen Grenzgebiet. Wieder ein halbes Jahr später wird in Berlin einer der beiden Brüder erschossen, die im Verdacht stehen, zu den Chefs der genannten Gruppierung zu gehören. Monate später ereilt den zwischenzeitlich nach München übersiedelten Bruder dasselbe Schicksal in Norditalien. Nach mehreren brutalen Morden unter russischen Emigranten, die nach Erkenntnissen der Polizei überwiegend auf tschetschenische Täter hindeuten, scheinen die Organisationen ihre Interessensphären bereinigt zu haben und es kehrt wieder relative Ruhe an der Russenfront ein. Von einer Fortsetzung des „Russischen Roulette“ hat Bokolic nichts gehört. Kann sein, dass die Kommission neue Spielregeln erfunden hat, die bisher der Polizei nicht bekannt geworden sind. Im Jahre der erwähnten Mordserie bestreiten jedoch zwei altgediente Länderinnenminister die Existenz einer „Russischen Mafia“ in der Bundesrepublik Deutschland. Der Berliner Innensenator sieht sich jedoch veranlasst auf eine Anfrage im Senat schriftlich zu bestätigen, dass es „Organisierte Kriminalität in den Kreisen der Exilrussen gibt“ und führt dazu die gerichtsverwertbar festgestellten Betätigungsfelder dieser Gruppierungen an. Zu dieser Zeit ist es Bokolic bereits durch Anordnung von höchster Stelle untersagt, die Spuren russischer Organisationen und ihrer Mitglieder zu verfolgen und aktenkundig zu machen. Er ist schlichtweg nicht mehr zuständig.