Die Kuriere des Zaren,  Jäger zwischen Ost und West

 

Die Kuriere sind Grenzgänger zwischen Ost und West, ausgestattet mit mehreren Identitäten, meist gerissene Burschen, was sich schon daran zeigt, dass es ihnen allen gelingt, ihre eigenen Bedürfnisse im Freien Westen zu befriedigen und hierzu verbotene Westkonten anzulegen und dies trotz ständiger Überwachung durch die Staatssicherheit. Die meisten von ihnen sind im Auftrag der Wandlitz-Versorgungsfirma LETEX unterwegs, um die bei den Bonzen des Regimes geschätzten Luxusgüter aus dem Westen herbeizuschaffen. Nur einigen wenigen ist es vorbehalten, bei der heikleren Beschaffung von Embargowaren und der Übermittlung von Informationen und Devisen mitzuwirken.

 

Schnäppchenjäger

 Die Bonzen und Mitglieder der Nomenklatura der sozialistischen Staaten sind keineswegs frei von Starallüren, wie sie den Werktätigen der Arbeiter- und Bauernstaaten vorgaukeln. Misstrauen, Neid und Missgunst sind, wie auch der ausgeprägte Privilegienmissbrauch, alltägliche Begleiter ihres Daseins. Zwar sind einige der im kapitalistischen Westen gepflegten Salonspielarten der Gehobenen Gesellschaft im sozialistischen Osten verpönt wie zum Beispiel das Golfspielen, für dieses reicht weder die Staatsknete noch die Vorstellungskraft sozialistischer Bannerträger. Dafür fallen sie auf eher bieder anmutende Verlockungen herein, die von ihren Botenjungen und von westlichen Geschäftspartnern weidlich ausgenutzt werden. Einer dieser Kuriere, die, nicht so sehr aus innerer Überzeugung wie ihre ehemals hauptamtlichen Überwacher, sondern mehr wegen möglicher strafrechtlicher Verfolgung ihres unrechten Tuns sich bei Vernehmungen mehr als zurückhalten, gestattet Bokolic und seinen Kollegen trotzdem einen Blick hinter die Kulissen der Schiebergeschäfte, soweit es nur seine ehemalige Kollegen betrifft: „Ja ich habe in der Super Illu vom Heimkino unseres Großen Vorsitzenden und den sichergestellten Pornokassetten gelesen. Was die Zeitung nicht schreibt, ist der nicht unerhebliche Nebenverdienst des mit der wöchentlichen Besorgung betrauten Kuriers. Ich bin durch einen Zufall dahintergekommen, weil ich während dessen Jahresurlaubs einmal die Besorgung solcher Kassetten übernehmen muss. Die Adresse des Händlers in West-Berlin wird mir von der Chefin persönlich mitgeteilt, wie auch die Präferenzen für Auswahl der neuesten Pornofilme. Auch werden mir einige Filme zum Umtausch mitgegeben. Beim Einkauf werde ich von dem Händler gefragt, ob das Geschäft wie immer abgewickelt werden soll. Für mich ist das selbstverständlich. Der Verkäufer stellt mir eine Ausleihquittung aus, die ich unterschreiben darf. Daneben stellt er mir noch einen Einkaufsbeleg über die gesamte Kaufsumme aus, die ich in hartem Westgeld bezahle. Dann beginnt das große Rechnen. Zehn Filme von zwanzig ausgeliehenen Filmen zurück. Für diese ist praktisch nur die Ausleihgebühr fällig. Für die restlichen nicht zurückgegebenen Filme sind die Verkaufspreise fällig. Beim letzten Mal wurden zwanzig Filme bar bezahlt. Die Differenz zwischen Kauf und Ausleihsumme wird durch zwei geteilt. Die eine Hälfte ist seine Provision, die andere Hälfte ist meine Provision. Es folgt die Frage, ob meine „Provision“ wie sonst immer auf das Westkonto meines Kollegen eingezahlt werden soll. Nach einigem Hin und Her stimme ich dem zu, weil ich mir nicht sicher bin, ob das Ganze nicht ein abgekartetes Spiel mit Horch und Guck ist. Damit bin ich auf der sicheren Seite“. Bei einer späteren Überprüfung stellt das zuständige Kommissariat von ZERV fest, dass bei der Rückgabe von Pornofilmen laut Quittungen des Verkäufers durch den Stammkurier mit einem Drittel des zuvor gezahlten Verkaufspreises abgerechnet wurde. Ausleihquittungen werden nicht gefunden. Das alte Westkonto dieses Kuriers weist zur Wende einen sechsstelligen Betrag aus. Diese Art der Umverteilung sozialistischen Eigentums einerseits auf die von der bevorzugten Versorgung mit kapitalistischen Luxusgütern profitierenden Genossen in Wandlitz und andererseits auf die illegalen Konten der Botengänger im Feindesland scheint gängige Praxis im real „nicht“ existierenden Sozialismus zu sein. Nahe einer Hochburg des freien Westberlins, dem Schöneberger Rathaus hat im Erdgeschoss einer dieser architektonisch tristen Neubauzeilen ein Händler aus dem Westen eine Filiale für den Verkauf von Waffen und nebenbei auch von Jagd- und bayerischen Freizeitmoden eröffnet. Ohne die Pflege von besonderen Beziehungen sowohl zu den Kreisen der für die Genehmigung von Waffengeschäften mit zuständigen Alliierten als auch zu höchsten Kreisen Westberliner Sicherheitsbehörden ist ein solches Vorhaben zu Zeiten des Kalten Krieges nicht denkbar. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Frau eines im Aufstieg begriffenen Beamten der Schutzpolizei im Dirndl- und Lodengeschäft eine lohnende Anstellung findet. Kutscher, der Inhaber des Ladens hat in der ersten Etage über dem Geschäft sich eine Wohnung angemietet, um ungestört mit seinen „besonderen Kunden“ Geschäftsbeziehungen pflegen zu können. Recht früh interessiert sich eine besondere auf rechtsextreme Aktivitäten spezialisierte Mannschaft der „Horch und Guck“ für die Verbindungen Kutschers in solche Kreise. Zutreffend nennt sie den angelegten Operativen Vorgang „OPK Kanone“. Die daraus resultierenden Erkenntnisse werden nach der Wende in ganz anderem Zusammenhang auch in Westpresse breitgetreten. Doch zurück zu den Modeschnäppchen aus Kutschers Laden. Englischer Loden ist unter den vornehmen Freizeitjägern der höheren Gesellschaft nicht nur im freien Westen ein Muss. Auch die alten Herren in Wandlitz möchten bei ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung nicht frierend im Regen stehen und bei den mit dieser Beschäftigung verbundenen nachfolgenden Sausen zudem eine gute Figur abgeben. Genau das gilt auch für die zuhause verbleibenden Damen, die weit vor der Strauss’schen Rettung der DDR Finanzen ein Faible für altbayerische Trachtenmoden entwickelt haben. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Kutschers Adresse bis in das KOKO-Imperium herumspricht, und nicht nur ein Kurier des Zaren im Auftrag der Wandlitz Versorgung das Geschäft und auch die erste Etage darüber zu Geschäftsabwicklungen aufsucht. In dem später von Bokolic geführten Ermittlungsverfahren spielen die Modegeschäfte keine Rolle. Jedoch ist bemerkenswert festzustellen, dass auch hierbei der bereits erwähnten Um- Verteilung sozialistischen Eigentums ausreichend Genüge getan wurde.

 

Schürzenjäger

 „Petrov, der bevorzugte Kurier des Zaren wird neben seinen zugewiesenen Geschäften ab und an mit dringlichen und kniffligen Besorgungen betraut. So steht wieder einmal die Ausstattung der feinen Damen der geschlossenen Wandlitzgesellschaft mit Ballkleidern für eine der großen jährlichen Festivitäten im „Palast der Republik“ an. Petrov ist, natürlich unter anderem Namen, in den Nobelboutiquen der Fasanenstraße ein gern gesehener Kunde, der immer im Voraus ohne Feilschen jeden Preis für die Textilien der Haute Couture mit Bargeld bezahlt. Während er sonst immer darauf besteht unterschiedliche Ballkleider in entsprechenden Größen und dem der Trägerin zustehenden Rang gemäßen Ausstattung zu ordern, ist er diesmal auf die Idee gekommen, dem kommunistischen Gedanken der Gleichheit Aller zumindest ansatzweise Genüge zu tun. Wie aber kommt ein solch im Grunde genommen kapitalistisch denkender Gauner auf solche Ideen. Von einer der Hausdamen in der Wandlitz-Siedlung ist Petrov zu Ohren gekommen, dass die First Gattin Honeymoon sowie die mit ihr mehr oder minder in Konkurrenz stehende Gattin Mielkewitsch, des Herren über Schild und Schirm der Partei, bemängeln, dass in der letzten Ballsaison der zu fordernde Abstand in der Ausstattung der Damen der unsozialen sozialistischen Wandlitz - Einheitsgesellschaft zu denen der niedereren Chargen nicht gebührend berücksichtigt wurde. So sucht der schlaue Fuchs aus verständlicher Verärgerung über diese Beleidigung seiner Ehre listenreich einen Weg ohne allzu schlimme Folgen den beiden Damen diese Ehrverletzung heimzuzahlen. Von der für die Wandlitz-Versorgung zuständigen Gattin des KOKO Zaren beauftragt für die neue Ballsaison die alle dämlichen Eitelkeiten abdeckende standesgemäße Einkleidung wie immer zu organisieren, bestellt er für die genannten Damen in Form, Farbe und Zuschnitt identische Ballkleider in den auf die ihm geläufigen Maße der beiden Damen abgestimmten Konfektionsgrößen. Selbstverständlich ordert er dazu auch die passenden Accessoires in gleichfalls identischer Ausstattung. Um dem Ganzen eine gewisse Unabänderlichkeit der Ereignisse zu geben, deutet er an, dass die Garderobe durch ihn erst am frühen Morgen des Tages der Festivität abgeholt werden könne, weil die internationale Edelboutique den Termin, wegen gewünschter Sonderanfertigungen nur unter größten Schwierigkeiten zusagen könne. Nach dem Ball sollen das tagelange Gezeter und Gekeife der beiden durch diesen Coup vollkommen überraschten Rivalinnen selbst über die Grenzen der sonst hermetisch abgeriegelten Siedlung bis weit in das Land zu hören sein. Die Gatten der beiden Damen belassen es jedoch bei einer sechswöchigen Sperre für Petrovs Westreisen, weil dessen anerkannte Qualitäten im illegalen Interzonenverkehr diese Eigenmächtigkeit bei Weitem aufwiegt, die zudem noch durch das für Parteibonzen unverständliche Eitelkeitsgetue der beiden Damen provoziert wurde“.

 

 

Herrenjäger

 

Für seine an den freien Wochenenden geplanten Ausflüge ins Umland der Hauptstadt hat sich Bokolic einen Auto-, Rad- und Wanderatlas gekauft. Bezeichnenderweise ist eine der darin beschriebenen Wandertouren wie folgt übertitelt: „Das Jagdrevier der höchsten Herren – Kaiser Könige und Kommunisten empfingen in Hubertusstock ihre Gäste und stellten dem unnatürlich reichen Wildbestand nach“. Mit diesem Titel ist der Herrenjägerkult vom Mittelalter bis zur kommunistischen Endzeit ausreichend beschrieben. Während der Wanderatlas im Bücherregal von Bokolic’s Bude vor sich hin staubt, ist Bokolic mit seinen Kollegen beschäftigt die unergründlichen Wege der sichergestellten Waffen, darunter auch einer Unzahl von Schießprügeln der höchsten Herren der sozialistischen Nicht - Einheitsgesellschaft nachzuvollziehen. Nachdem in monatelanger stumpfsinniger Schreibtischarbeit Waffentypen und - Nummern aus dem Bericht der ehemaligen Generalstaatsanwaltschaft der DDR zusammengestellt und Verkaufswegfeststellungen in aller Herren Länder in die Wege geleitet sind, ist es an der Zeit die Waffen in persönlichen Augenschein zu nehmen, um etliche Ungereimtheiten zu klären. Die Waffen lagern zusammen mit Beständen der Volkspolizei und der Einheiten der Staatssicherheit unter der Obhut des Bundesinnenministeriums in einem tristen Außenlager im ehemaligen Ostberlin. Zusammen mit Reinhardt, einem Kollegen aus Berlin ist Bokolic zu dem Außenlager unterwegs. Kaum haben sie dieses erreicht, werden sie von dem uniformierten Pförtner im Wachhaus vor dem rot-weiß gestreiften Schlagbaum in rüdem Ton angeschnauzt, was ihnen denn einfalle als Zivilisten mit einem Zivilfahrzeug die gesperrte Zufahrt zu dem Gelände zu befahren. Der Ton lässt darauf schließen, wes Geistes Kind der Pförtner ist. Bokolic, inzwischen mit dieser Sorte Mensch hinreichend vertraut, schnauzt umgehend zurück: „Nehmen Sie Haltung an, schließen sie die Knöpfe an ihrer Jacke und machen sie gefälligst anständig Meldung, wie es sich gehört. Danach bitte ich um umgehende Anmeldung von Kommissar Bokolic bei Ihrem Vorgesetzten, der uns bereits erwartet“. Zack, Zack, Uniform geschlossen, Männchen gebaut, Meldung erstattet, Schlagbaum geöffnet, Parkplatz zugewiesen und den Weg zum Vorgesetzten in militärisch korrekter Form erklärt. „Na also, geht doch“, sagt Bokolic während Reinhardt sich ein breites Grinsen nicht verkneifen kann und nur noch anmerkt: „Mit entsprechendem Gehabe kann hier wohl jeder ohne Vorzeigen eines Dienstausweises rein“. Wir gehen die lang gestreckte Halle entlang, vorbei an Gitterboxen in denen ungesichert Handfeuerwaffen des alten Regimes still vor sich hin rosten und offensichtlich auf Verschrottung warten. Nach einer kurzen Besprechung mit dem Verwalter dieser Hallen sind Reinhardt und Bokolic den ganzen Tag mit Sichtung, Registrierung und der fotografischen Detailerfassung der KOKO-Hinterlassenschaft beschäftigt. Hierbei stellen sie fest, dass einige beweiserhebliche Details nicht in den Sicherstellungsprotokollen enthalten sind. An den Jagdwaffen sind zum Beispiel in Plastikhüllen die DDR Waffenkarten befestigt, an den automatischen Westwaffen neben den Karten, die Auskunft über die Einheiten geben, von denen die Waffen vor der Rückgabe an KOKO benutzt wurden, auch viele Originalbeschusskarten. Bei den sichergestellten Nachtsichtgeräten darüber hinaus noch die Originale der Betriebsanleitungen nebst Garantiekarten. Die Jagdwaffen der hohen Herren stammen aus aller Welt und zeugen in der Mehrzahl der Fälle von einer hervorragenden individuellen handwerklichen Qualität und deren feinste Ziselierungen und Schaftverzierungen auf ein ebensolches Preisniveau. Eine der Waffen aus dem ehemaligen Besitz des Günter Mittag soll stellvertretend für viele dieser Waffen die „besonderen Beziehungen“ von Herrenjägern in Ost und West veranschaulichen. Bei der Verkaufswegfeststellung für diese Waffe stellt sich heraus, dass diese Waffe immer noch auf einer der Waffenbesitzkarten eines Herrn auf der Villa Hügel in Essen eingetragen ist. Ein später beigezogener Fernsehbeitrag belegt, dass diese anlässlich der Eröffnung einer Leipziger Messe an Mittag übergeben wurde. Weder hat es der Herr auf der Villa Hügel für notwendig gefunden die rechtlich notwendigen Schritte für diesen Interzonenhandel zu veranlassen, noch hat es der Minister der DDR für notwendig gefunden, dieses Geschenk entsprechend der Gesetze der DDR registrieren zu lassen. Solche lästigen Lappalien werden einfach schlichtweg vergessen, weil sie in diesen Kreisen ja auch nicht zu irgendwelchen Konsequenzen führen. Bokolic stellt dazu fest: Justitia ist halt in manchen Fällen wirklich blind. Auch bei der Durchführung der Herrenjagden scheint es nicht immer mit rechten Dingen zugegangen zu sein. In einem Jahr nach der Waffenbesichtigung macht Bokolic´s Kommissariat an einem verregneten Tag im Sommer den jährlich anstehenden Betriebsausflug in die Schorfheide - somit also in besagtes Jagdrevier der hohen Herren. Da das Wetter wirklich nicht zum Wandern einlädt, wird einer der mit Plane versehenen Pferdewagen gemietet, auf dem die ganze Truppe nebst Getränken ausreichend Platz hat. Für den ersten Teil des Weges hat sich Bokolic neben den Kutscher gesetzt. Dieser gibt einige Geschichten über die Vergangenheit des Biosphärenreservates zum Besten, von denen die nachfolgende Geschichte auf die Herrenjäger der gerade untergegangenen Epoche abzielt. Einer der Jäger vor dem Herrn ist berühmt wegen seiner besonderen Eitelkeit und noch mehr wegen seiner Zielkünste. Letztere sind so gut oder besser gesagt so schlecht, dass ein eigens abgestellter „Sicherheitsbeamter“ als Dublettenschütze „Gewehr bei Fuß“ so postiert wird, dass das von dem älteren Herrenjäger ins Visier genommene Wild bei dessen zwangsläufigen Fehlschuss von diesem stellvertretend für seinen Herrn mit einem sauberen Blattschuss zur Strecke gebracht wird. Halali und Waidmannsheil denkt Bokolic. Auch mit dem Wild ist das so eine eigene Sache. Gewisse „Staatsgäste“ haben besondere Wünsche, was ihre Trophäensammlung angeht. Dem muss man Rechnung tragen, auch wenn das im Überfluss vorhandene Wild nicht immer diesen Wünschen entspricht. Gott sei Dank oder besser Marx sei Dank kann man in den meisten Fällen auf den Tiergarten oder auf Bestände im nicht immer geliebten Bruderstaat jenseits der Oder zurückgreifen. Der Kutscher lacht an dieser Stelle lauthals und fügt hinzu, dass lediglich Exoten wie Leopard oder Nashorn von solchem Ansinnen aus begreiflichen Gründen ausgenommen sind. Bevor die Fahrt zu Ende ist, werden auf die Geschichten des Kutschers und auf die gesamte Truppe noch die letzten Schnäpschen getilgt.

 

 

 

Petrov der Diener mehrerer Herren

Petrov, Diener mehrerer Herren

 Nach der unmaßgeblichen Meinung von Bokolic ist Petrov ein mit allen Wassern gewaschener Mensch. Persönlich soll ihn Bokolic nie kennen lernen, obwohl er eine bedeutende Rolle in den nachfolgend geschilderten Ereignissen spielt. Petrov ist einer der ersten Kuriere, der, wegen seiner herausragenden Rolle im Bereich der KOKO des Zaren von der für die Verfolgung von Vereinigungskriminalität zuständigen Staatsanwaltschaft zur verantwortlichen Vernehmung vorgeladen wird. Bei dieser Vernehmung zeigt er dem Staatsanwalt, der von kriminaltaktischer Voraufklärung offensichtlich wenig hält, wes Geistes Kind er ist. Noch bevor die Vernehmung irgendwelche Ergebnisse zeitigen kann, entzieht sich Petrov allen peinlichen Fragen durch einen außerhalb jeglicher Prozessordnung angesiedelten einfachen Trick, der gleichzeitig zu einer zumindest in der entsprechenden östlich angehauchten Presse zu der Verdammung ungerechtfertigter, menschenverachtender Verfolgung unschuldiger Ostler führen soll. Mit einem gut einstudierten „Herzkasper“ entzieht sich der bis dahin kerngesunde Petrov den quälenden Fragen des Ermittlers und bleibt nach der Pressekampagne bis auf Weiteres von Aufklärungsversuchen der Ermittler verschont. Diese Geschichte ist Bokolic aus den Erzählungen der Kollegen bekannt, als in seinen Ermittlungen die Person des Kuriers eine zunehmende Rolle spielt. Wie Bokolic es gelernt hat, beginnt er daraufhin sich zuerst mit dem „aktenkundigen Leben“ des Vorgenannten zu beschäftigen. Das bedeutet in diesem Falle die zugänglichen Archive des untergegangenen – besser des der Bundesrepublik beigetretenen - Staates zu durchforsten. So einfach, wie sich dies Bokolic vorstellt, ist es nicht annähernd die Wahrheit zur Person des Petrov zu ergründen. Bei der Anfrage bei der Stasi Unterlagen- oder auch Gauck Behörde wird Bokolic mitgeteilt, dass zwar die Akten der BKK, das heißt, der für die Überwachung der Mitarbeiter im Bereich KOKO zuständigen Dienststelle, eingesehen werden können, weitere Unterlagen laut Karteierfassung jedoch, wie so oft „im Interesse der Bundesrepublik Deutschland“, für Zwecke der Strafverfolgung nicht freigegeben sind. Da Petrov nach Kenntnis der Behörden als Ausländer, nämlich als Bulgare registriert ist, besucht Bokolic mit einem von Vorgesetzten unterzeichneten Ersuchen das zuständige Ausländeramt. Dort darf er die komplette Akte einsehen. Doch was heißt hier komplett und was heißt hier Ausländer? Angesichts der Tatsache, dass Petrov bereits zu Zeiten des Gröfaz und danach über die gesamte Nachkriegszeit bis über die Wende hinaus in Deutschland weilt, erscheint Bokolic die Akte doch mehr als dürftig. Eine solche „Ausländerakte“ hat Bokolic in all seinen Berufsjahren noch nicht zu Gesicht bekommen. Nein, nach näherem Studium stellt Bokolic fest, dass ihm darüber hinaus noch nie eine solche Verwaltungsakte überhaupt untergekommen ist. Er bittet nach kurzer Bedenkzeit die etwas bärbeißige Angestellte darum, mit seiner Dienststelle und danach mit der Staatsanwaltschaft telefonieren zu dürfen. Dies wird ihm zögerlich mit einem: „So könnte ja jeder kommen“ letztlich bewilligt. Danach geht alles sehr schnell. Kurze Zeit später wird von dem zuständigen Staatsanwalt der Behördenleiter herbeizitiert. Die seltsame Akte wird kurzerhand im Original sichergestellt, nachdem der Behördenleiter eine Erklärung unterschreibt, dass der Behörde die inzwischen von Bokolic angefertigte „vollständige und fehlerfreie Kopie der Akte“ ausgehändigt wird. Die missmutig brummelnde Verwaltungsangestellte, nach Angaben des Behördenleiters bereits vor der Wende an gleicher Stelle tätig, wird zu der merkwürdigen Akte zeugenschaftlich befragt. Sie äußert sich sinngemäß wie folgt: „Ja es ist richtig, dass Ausländerakten kurz vor der Wende „einigen“ Betroffenen vorgelegt werden und diese in der Lage sind ihre Akte zu „bereinigen“. Ja es ist auch richtig, dass auf Ersuchen dem Ausländer Petrov in den Tagen nach der Wende die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen wird. Sie ist in diese Vorgänge nicht direkt involviert, da sie zu diesem Zeitpunkt nur noch mit der Verwahrung der so „behandelten“ Akten betraut ist. Ihrer Kenntnis nach ist nicht nur im Ausländeramt, sondern auch in anderen Behörden so verfahren worden. Für Bokolic ist diese „rechtstaatliche“ Praxis einer Verwaltungsbehörde bezeichnend für den Begriff solch einer Gesellschaft von einem „Rechtsstaat“ allgemein. Dieser untergegangene Staat kann überhaupt kein Unrechtsstaat gewesen sein, weil die Handelnden in all ihrem Tun per se im Recht sind und waren. Die sichergestellte Akte enthält knapp einhundert Seiten, obwohl sie nach ursprünglicher noch erhaltener Seitenfoliierung mindestens viermal so umfangreich sein sollte. Fehlblätter, Hinweise oder Vermerke über die Entnahme bestimmter Seiten sind jedoch nicht vorhanden. Daneben sind noch die Daten aus der ebenso gefledderten Akte der den Bereich des Zaren überwachenden Diensteinheit der Stasi, nämlich der AG BKK auszuwerten, die trotzdem noch einige Hinweise auf das Zusammenwirken des Dreigestirns Zar Aleksander, Kurier Petrov und Waffenschieber Kutscher gibt. So ist Bokolic angewiesen, in der Gesamtauswertung aller ihm zur Verfügung stehenden Akten, sich ein Bild von Petrov und seiner Tätigkeit zu machen. Natürlich heißt Petrov überhaupt nicht Petrov. Er wird von Bokolic nur so genannt, weil bis zur Wende unter diesem Namen, der sich im Übrigen auf den nachweisbaren Geburtsnamen seiner Mutter bezieht, eine Firmendeckadresse bei der „Zollfreimachung“ des „internationalen DDR Staatsflughafens“ in Berlin – Ost Schönefeld eingerichtet ist. Auch ist in den Akten ganz nebenbei dokumentiert, dass er einen Pass auf den Namen Petrov wie auch mindestens vier weitere auf andere Namen hat, die allesamt in diversen Akten der Staatssicherheit aufscheinen, die sich mit seiner Person und Vorgängen zu seiner Tätigkeit beschäftigen. Nach Aktenlage hat Petrov vor dem Krieg eine „private“ Verbindung zu einer Beschäftigten beim Ministerium des Baldur von Schirach unterhalten. Nach dem Krieg wird er von den Sowjets als Schieber und Schwarzhändler festgenommen und verurteilt. Kurze Zeit später ist er jedoch schon „Hausmeister“ einer öffentlichen Einrichtung und überwiegend in Karlshorst, für wen auch immer tätig. Danach wird er als Fahrer und besonderer Kurier der Firma Goldberg später der Camet, die beide übereinstimmend von westlichen Geheimdiensten und von Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages der HVA, dem Auslandsgeheimdienst des Markus Wolf zugeordnet werden und die in enger Verflechtung mit dem Imperium des Zaren bei der Beschaffung von Embargogütern und dem illegalen Technologietransfer von West nach Ost zu sehen sind. Zu den Zeiten, die für Bokolics Ermittlungen von Bedeutung sind, ist Petrov bereits Diener mehrerer Herren. Er arbeitet er als persönlicher Kurier für Spezialaufträge des Zaren, daneben als Kurier des Chefs der HVA-Firma Camet, gleichzeitig auch als nachrichtendienstlicher Zuträger für mehrere Organisationseinheiten ostdeutscher Nachrichtendienste wie auch vermutlich des Großen Bruderdienstes der Sowjetunion. Er ist sozusagen der Diener mehrerer Herren. Dies ist für Bokolic´s Ermittlungen nicht allzu sehr von Belang, denn ihn interessieren inzwischen nur bestimmte Vorgänge, die im Zusammenhang mit ganz bestimmten persönlich direkt vom Zaren zu verantwortenden Geschäften mit einem bestimmten Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland stehen.