Die Sonderkommission

 

Zu der Zeit kommt Bokolic frisch vom Lehrgang, gerade soeben zum Kriminalkommissar gebacken. Nachdem er ein halbes Jahr in der Direktionsabteilung des LKA damit zugebracht hat pflichtgemäß Veröffentlichungen in einer Fachzeitschrift für die entstehende Literaturdatenbank des BKA zu erfassen, ist es ihm vergönnt, wieder an die Front der Verbrechensbekämpfung zurückzukehren. Er wird einer Sonderkommission zugeteilt, die sich seit Jahren mit der Bekämpfung einer absonderlichen Kriminalität befasst. Es geht um Verstöße gegen das Bundesvertriebenengesetz, das Entschädigungsgesetz und das Lastenausgleichsgesetz, kurz: BVFG, LEG, LAG. Kein Kriminaler hat in seiner Ausbildung oder seinem Berufsleben die vorgenannten Gesetzesmaterialien zu Gesicht bekommen, geschweige denn sich mit den unmöglichen Straftatbeständen dieser Gesetze befasst. In seiner späteren Laufbahn sollte ihm die Beschäftigung mit solchen „Spezialstraftatbeständen“ noch öfter viel Freude und ebenso viel Kummer bereiten. Es hat sich hieraus später jedoch eine Maxime in Bokolics Berufsleben entwickelt, die sich auf folgende Kernsätze verkürzen lässt: Es spielt keinerlei Rolle, weswegen ein Schuldiger verurteilt wird, solange ihm eine, wie auch immer geartete, Straftat unwiderlegbar nachgewiesen wird. Das Gericht ist die einzige und ausschließliche Instanz, die bestimmt, was strafbar ist und was nicht. Die Entscheidungen der höchsten Gerichte unseres Staates sind daher wie päpstliche Bulletins, unfehlbar und unumstößlich. In vielen Fällen ist jedoch das Honorar des Strafverteidigers die größte Strafe, wenn nicht die Einzige, die der Delinquent tatsächlich spürt. Angesichts der formulierten Glaubenssätze: Suche als Kriminalbeamter einfache, beweisbare strafbare Sachverhalte zu ermitteln, bevor du dir an unbeweisbaren Tatbeständen die Zähne ausbeißt. Kehren wir zurück zu Antragstellern und Vermittlern, zu Ausländer- Sozial- und Flüchtlingsbehörden, zu Anwälten und Notaren, zu Herstellern falscher Ausweise, falscher Urkunden sowie zu falschen Versicherungen an Eides statt. Irgendwann Anfang der Achtziger Jahren tauchen bei Ermittlungen wegen Hehlerei und Kfz-Verschiebung Menschen osteuropäischen Ursprungs auf. In deren Gesprächen ist von der Beschaffung grauer und grüner Ausweisen die Rede. Viele dieser Menschen sind im Auftrag von Rechtsanwälten und Notaren unterwegs. Sie schleppen und schleusen Menschen aus Ostblockstaaten durch die verschiedenen zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland. Sonderkommissionen nehmen in Hessen und Nordrhein-Westfalen die Ermittlungen auf. Jahre wird nun schon ermittelt. Die ersten höchstrichterlichen Urteile zu Straftatbeständen des BVFG und des LEG belegen, dass das Parlament der Bundesrepublik Deutschland als der Gesetzgeber wie auch die darin vertretenen Parteien - sich hat Formulierungen einfallen lassen, die den Beweis von Strafbarkeit ausschließlich von Geständnisfreudigkeit der Beschuldigten abhängig machen. In diesen Gesetzen ist von Begriffen die Rede, die so dem Wortschatz des vergangenen Tausendjährigen Reichs entstammen. Sie entsprechen nicht den Begriffen, die in Herkunftsländern der Antragsteller, den von ethnischen Minderheiten geprägten Vielvölkerstaaten Osteuropas, sich in langer Praxis eingeschliffen haben. Dies trifft für die früher zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie zählenden Gebiete, wie auch für die Gebiete des ehemaligen Zarenreiches und des Königreiches Polen zu. Die notariell beglaubigten eidesstattlichen Lügenmärchen der Zeugen sind vom höchsten Gericht der Bundesrepublik als nicht strafbare schriftliche Lügen bezeichnet worden, da der Gesetzgeber es verabsäumt hat, die für die Bescheidung der hierdurch begründeten Anträge zuständigen Behörden ausdrücklich zur Entgegennahme solcher Eidesstattlicher Versicherungen zu ermächtigen. Als Bokolic zur Sonderkommission stößt, sind die meisten der verbliebenen Mitarbeiter damit beschäftigt, Verfahren wegen der „fortgesetzten Unverschämtheiten“, jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht strafbaren Taten, abzuschließen. Bokolic findet, abseits der bisher eingeschlagenen Ermittlungspfade, ein lohnendes Betätigungsfeld in der Überprüfung der von den Antragstellern vorgelegten „Heimaturkunden“ und in Feststellungen zu der Praxis des „Behördenbakschischs“. Drei Ermittlungskomplexe sind es, die ihn über den Zeitraum von fast fünf Berufsjahren begleiten sollen.