Inge und der Parkbankpenner

 

 

Der Frühling ist in diesem Jahr so spät dran, wie Ostern. Jetzt aber kommt er mit Macht. Die letzten Frostnächte sind vorbei, die Frühlingsblumen auf den Rabatten im Park hinter dem Stadttheater zur Saar hin blühen bereits in voller Pracht. Die Sträucher zeigen sich mit noch zaghaften, maigrünen Austrieben. Heute stehen dort anstelle von Parkbänken und Sträuchern die Musikhochschule und die Moderne Galerie. Der junge Bokolic hat sein erstes eigenes Zimmer am Rande der Stadt bezogen. Es ist eher eine Höhle, denn ein Zimmer, im Souterrain gelegen, dringt gerade einmal drei Stunden am Morgen ein Sonnenstrahl in seine Behausung. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Bokolic nach Feierabend sich mit einem Buch eher auf eine Parkbank verzieht, als in der dunklen Bude zu hocken. Auf einer dieser Parkbänke macht Bokolic die Entdeckung dieses Frühjahres. Inge ist zierlich, kleinbrüstig, rothaarig und ziemlich schüchtern. Am besten an Inge gefallen Bokolic jedoch ihre grünen Katzenaugen. Die Bank auf der Bokolic in der Abendsonne Platz genommen hat, steht etwas zwischen Rosenbüschen versteckt, jedoch so, dass man einen guten Blick auf den tiefer gelegenen Spielplatz hat. Da dies die einzige Bank mit Blick auf den Sandkasten ist, bleibt Inge nichts anderes übrig, als sich am äußersten Ende der Bank niederzulassen, nachdem sie ihren kleinen Bruder zum Spielen im Sandkasten abgesetzt hat. Beide sitzen dann da, jeweils in ein Buch vertieft. Inge hebt ab und zu den Kopf von ihrem Buch um nach dem kleinen Bruder zu schauen, Bokolic hebt ab und an den Kopf von seinem Buch um nach Inge zu schauen. So geht das nun schon drei Abende lang, ohne dass Bokolic seiner Frühjahrsentdeckung näher gekommen ist. Als Inge mit ihrem kleinen Bruder an diesem Abend aufbricht, lächelt sie allerdings Bokolic ein wenig aufmunternd zu und sagt mit ihrer leisen Jungmädchenstimme: „Tschüs, bis morgen, Ja?“ Bokolic fällt fast das Buch aus der Hand. Er ist zuerst sprachlos, nickt dann aber selig zurücklächelnd mit dem Kopf. Nach weiteren drei Tagen sitzen Bokolic und Inge fast schon eng beieinander auf der Bank, unterhalten sich lebhaft über das Lesen, die Bücher, ihre Interessen und die große weite Welt. Ab und zu sieht Bokolic hoch, schaut nach dem kleinen Andreas im Sandkasten und danach tief in die meergrünen Augen von Inge. Ab und zu dreht Inge den Kopf, schaut nach ihrem kleinen Bruder und danach wieder in die braunen Augen von Bokolic. Trotz allgemeiner Fortschritte in ihrer gegenseitigen Beziehung findet es Bokolic an der Zeit etwas zu unternehmen. Man kann es doch nicht nur bei unverfänglichen Blicken und tief schürfenden Gesprächen belassen, wenn doch Frühling und Gefühle und überhaupt alles einen zu übermannen droht. Hätte doch Bokolic nicht solch eine Rabenstimme, er hätte Inge wenigstens von seinen Gefühlen singen können, wie es die Amselmännchen in der großen Rotbuche es tun. Die Karwoche hat begonnen. Inge erzählt Bokolic vom Osterausflug ihrer Familie. Ihr Stiefvater, ihre Mutter und der kleine Bruder werden zu Ostern einen Besuch bei einem Onkel in Landau in der Pfalz machen. Sie wird das Haus hüten und für ihre Abschlussprüfung büffeln. Daraufhin sondiert Bokolic die Möglichkeiten eines heimlichen Date mit Inge an den Feiertagen. Er erntet jedoch nur ein zögerliches, wenn auch nicht ganz überzeugend klingendes: „Ich weiß nicht recht, mein Stiefvater sieht so was gar nicht gerne, aber vielleicht könnte man ja, ach doch besser nicht, Nicht wahr?“ Trotzdem geht der Abend versöhnlich zu Ende. Inge haucht ihm zum Abschied einen scheuen Kuss auf die Wange und zerzaust ihm dabei mit der Hand seine schwarzen widerborstigen Locken. Gründonnerstag ist da, der Tag an dem Inges Eltern verreisen und damit nach Bokolics Meinung der Tag der Entscheidung. Am frühen Nachmittag hat Bokolic sich Rat bei der Roten Zora eingeholt. „Mitleid mein kleiner Ritter ist der einzige Schlüssel zu den Herzen der Menschen. Liebe ist nichts anderes als vorweggenommenes Mitleid mit sich selbst und den anderen. Wer Mitleid empfindet und zeigt, hat Liebe im Herzen.“ Danach gibt sie ihm genaue Instruktionen, wie er das Mitleid von Inge und ihre Liebe zu ihm erwecken könne. So findet Inge, als sie mit leicht geröteten Wangen zu ihrer gemeinsamen Bank eilt, ihren Bokolic mitten zwischen alten, gebündelten Zeitungsstapeln, die ihm die Rote Zora neben ihren guten Ratschlägen mit auf den Weg gegeben hat. Ein altes Fahrrad, das Bokolic zusammen mit etlichem sperrmüllverdächtigen Inventar und seiner Kellerbehausung von Uwe seinem Freund und Vormieter übernommen hat, lehnt am Rücken der Bank. Auf dem Gepäckträger ist eine zusammengerollte Decke, sowie in der demonstrativ durchsichtigen Tasche Kulturbeutel, Essbesteck, Handtücher, Unterwäsche, Kaffeetasse und Teller zur nachhaltigen Besichtigung dekoriert. Inge schaut zuerst etwas befremdet drein, wird aber umgehend zugänglicher, als Bokolic sie in die Arme nimmt und sehr lange und sehr zärtlich begrüßt. Dann berichtet Bokolic mit leichter Trauer in der Stimme von dem Missgeschick, das ihm widerfahren ist. Seine Vermieterin habe ihn ausgesperrt, solange bis er den fälligen Mietrückstand aufgebracht habe. Da sei es aber zu spät gewesen, zur Bank zu gehen. Diese habe wegen der anstehenden Feiertage bereits zur Mittagszeit geschlossen. Alle seine Freunde seien gleichfalls über die Feiertage verreist. Jetzt müsse er sich auf einige kalte Nächte auf der Parkbank einrichten. Daher auch die Zeitungsstapel. Diese seien ihm von den Pennern unter der Brücke zum Schutz gegen die Nachtkälte „wärmstens“ empfohlen worden. Während dieser Worte schaut Bokolic mit seinem traurigsten Dackelblick, den er überhaupt aufsetzen kann, in die meergrünen Augen von Inge, die sich langsam mit Tränen des Mitleids füllen. Zum Schluss ist es so gekommen, wie es die Rote Zora Bokolic prophezeit hat. Inge hat Bokolic über die Osterfeiertage mit nach Hause genommen. Sie haben eine unbeschwerte Zeit miteinander gehabt, voller ungeschickter Zärtlichkeit und Hingabe. Die Osterfeiertage waren zu schnell vorbei. Inges strenger Stiefvater hat von dem leichtfertigen Techtelmechtel seiner Stieftochter wohl von den Nachbarn erfahren. Der kleine Andreas kommt nur noch mit seiner Mutter in den Park. Heimlich haben sich Bokolic und Inge noch ab und an in der Stadt verabredet. Nachdem sie ihre Abschlussprüfung bestanden hat, wird sie zu ihrem Onkel in die Pfalz verfrachtet. Einige Zeit noch wechseln Liebesbriefe zwischen Saarbrücken und Landau hin und her. Danach will die Post diese Briefe nicht mehr zustellen. Unbekannt verzogen vermeldet sie. Jahre später erzählt der jetzt schon große Andreas dem älteren Bokolic von der Hochzeit seiner großen Schwester mit einem Luftwaffenoffizier. Zu dieser Zeit sind Inges meergrünen Augen nur noch eine von vielen Erinnerungen an unbeschwerte Jugendtage.