Skandal im Ausländeramt

 

 Jahrelang kassieren nun die Herren Sachbearbeiter schon ab. Nicht, dass sie dabei unbedingt ihre Amtspflichten verletzen wollen. Nein, sie nehmen nur einen jeweils persönlich festgesetzten Aufschlag auf die behördlich festgesetzten Gebühren. Rechtsanwälte und Vermittler, die mit ihrer kaum der deutschen Sprache mächtigen Klientel durch die Amtsräume schwirren, haben in stillem Einverständnis, je nach Schwere des Falles und der Bedeutung der amtlichen Entscheidung für ihre Antragsteller, einen Zehner oder einen Zwanziger, in Zweifelsfällen auch einen Fünfziger in den Antrag oder Pass des Antragstellenden eingelegt. Die Berater kostet dies lediglich ein mildes Lächeln, schließlich handelt es sich nur um das Geld ihres Klienten und sie haben schließlich von dem Klienten schon im Voraus reichlich abkassiert. Dafür kann aber jeder dieser Antragsteller sicher sein, dass Mögliches sofort, Unmögliches gegen weiteres Zusatzhonorar auf irgendwelchen Umwegen etwas später geregelt und behördlich abgesegnet wird.

 

Individuelle Bearbeitungsgebühren, Futterneid und dessen Folgen

 

Anfangs ist in dem großen Saal mit den vielen Schaltern nur der Kassierer als der Leidtragende dieser sachbearbeitergebundenen Honorierung zu erkennen, da er nur die amtlich vorgeschriebenen Gebühren kassieren kann. Nicht umsonst jedoch ist er im wahrsten Sinne des Wortes „Kassierer“ geworden. Er ist clever genug, den Weg zu finden, um auch selbst an den auf die Sachbearbeiter hernieder gehenden Wohltaten zu partizipieren. Der Reihe nach gibt er Beratern und Anwälten beim Inkasso der Gebühren zu verstehen, dass seine Familie unter der Inflation der Geld- und aller anderen Werte besonders zu leiden hat. Sein erklärtes Ziel jedoch ist es, die Amtsgeschäfte so reibungslos wie irgend möglich abzuwickeln. So wird er es sehr begrüßen, wenn die Herren bei ihren „Besonderen Einlagen“ zumindest seine Dienste als Geldwechsler in Anspruch nehmen. So kommt es, dass wenig später sich die Klientenvertreter mit ihren Klienten morgens vor der Kasse einfinden. Nachdem sie den Klienten Pässe und Anträge sowie den ihnen zustehenden Obolus in Form von braunen Fünfzigern und blauen Hundertern abgenommen haben, treten sie einer nach dem anderen zur Kasse und sagen, je nach Bedarf der ihnen vorliegenden Anträge, ihr Einlegewechselgeld an: „Mindestens zwanzig Zehner und sieben Zwanziger“, wird vom Herrn Rechtsanwalt angesagt, indem er vier blaue Hunderter dem Kassierer in die Wechselbox schiebt. Dieser zählt daraufhin die angesagte Anzahl hellblauer Zehner und grüner Zwanziger aus seiner Amtskasse in die Wechselbox, legt noch einen Zwanziger obenauf, und mit den Worten: „Stimmt so“, schließt er den Vorgang ab. Der Anwalt nickt nur schicksalsergeben stumm. Dann entnimmt der Kassierer aus der Amtskasse seinen Anteil in Form der nach Adam Riese überzähligen zwei grünen Zwanziger, versteckt diese sorgsam in den Tiefen seiner privaten Geldkatze, um zum Abschluss des Wechselvorganges die, mit der ihm seiner Meinung nach zustehenden Provision, gewechselten, vier blauen Hunderter in die Amtskasse einzulegen. Der Futterneid ist damit aus der Welt und die Bedachten wie auch alle Bedenkenden sind glücklich und zufrieden. Wäre da nicht der stetig anwachsende Zustrom von Antragstellern aus aller Welt gewesen. Es ist so eine Sache mit den Sonderangeboten, sie locken die Kunden an und werden argwöhnisch von der Konkurrenz beobachtet. In diesem Falle ist die Konkurrenz ein „Springer“ aus einer benachbarten Behörde, der, ob des großen Andrangs von Kunden zur Aushilfe entsandt wird. Kaum bemerkt er, dass ihm etwas vorenthalten wird, was die reguläre Stammbesatzung für sich in Anspruch nimmt, da besteht er auf Teilhabe. Die will man ihm so nicht ganz gewähren, da er doch nur Aushilfe ist. Also versucht man, ihn mit einer billigeren Pauschallösung abzuspeisen. Einer der Klientenvertreter stiftet sowieso allen Amtsinhabern „Gratisurlaube“ als zusätzlichen Jahresbonus. Vierzehn Tage Gratisurlaub im Bayerischen Wald werden dem Springer angeboten. Damit nicht zufrieden rennt der Springer, in Verkennung der Hintergründe, zu seinem eigenen Behördenleiter, der ihn tief entsetzt über dessen Vortrag, sofort zur Staatsanwaltschaft schickt. Keine Woche später stehen an einem Freitagmorgen die Rechtsvertreter, wie auch die Vermittler und ihre Klientel vor verschlossenen Türen. Hinter den verschlossenen Türen werden alle Mitarbeiter dieser Behörde, mit Ausnahme zweier Schreibkräfte, von Staatsanwälten, in Begleitung einer größeren Truppe der örtlich zuständigen Kriminalpolizei und der Soko des Landeskriminalamtes vorläufig festgenommen. Die Büros und alle Amtsräume werden ebenso durchsucht wie ihre Wohnungen. Danach werden die Aussagewilligen über ihre Rechte belehrt und vernommen. Anschließend werden sie dem Haftrichter vorgeführt, der über Freilassung oder Inhaftierung entscheidet. Das Wochenende verläuft für die Staatsanwälte zweier Behörden, für Bokolic und seinen Kollegen Helmuth aus dem Landeskriminalamt sowie die übrigen Kollegen der örtlichen Kriminalpolizei hektisch, kraftraubend mit Erstvernehmungen, Beweismittelzuordnungen und Asservatauflistungen und Haftvorführungen.

 

Die Auslegung einer besonderen Weisung

 

Die Kollegen sind mit der Durchsuchung der Amtsräume fast zu Ende. Bokolic und Helmuth sind noch dabei die Räume des Amtsleiters und seiner Stellvertreterin zu inspizieren. In einer Ecke der sonst leeren Amtsstube der Stellvertreterin liegt auf dem Boden ein Stapel Akten, der ihre besondere Aufmerksamkeit erregt. In den einzelnen Akten befinden sich ausgefertigte Abschiebeverfügungen mit älterer Datumsstellung, jedoch keine Hinweise zu der Zustellung an Betroffene oder zu deren Vollzug. Obenauf liegt die Kopie eines Gesprächsprotokolls zwischen der Behördenleitung und dem Staatssekretär des zuständigen Landesministeriums. Da eine Wertung der Vorgänge in der Eile nicht möglich ist, werden, nach Zustimmung eines Staatsanwaltes, die Akten in Kartons verpackt sichergestellt. Die Auswertung der Akten über das Wochenende ergibt, dass aufgrund rein politisch motivierter Weisung des zuständigen Ministeriums ein fest umrissener Personenkreis von den gebotenen und begründeten Abschiebemaßnahmen ausgenommen werden sollte. Bei Durchsicht der Akten ergibt sich, dass darüber hinaus auch Personen, die nicht zu diesem Kreis gehören, ebenfalls von bereits verfügten Abschiebungen verschont wurden. Die Bearbeitung all dieser Akten wurde von der Stellvertreterin des Amtsleiters vorgenommen. Ein hinzugezogener Experte des Ausländerrechts bestätigt nach Durchsicht der Akten, dass der begründete Verdacht rechtsmissbräuchlicher Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse besteht. Bokolic lässt sich zu einzelnen Fällen Kurzgutachten fertigen, um entsprechende Vorhalte machen zu können. Danach überprüft er, wer die so begünstigten Antragsteller vertritt und berät. Er kommt zu dem ihn nicht verblüffenden Ergebnis, dass alle diese Personen von nur einem Rechtsverdreher betreut werden. Es handelt sich hierbei um einen älteren Rechtsanwalt, der von einem geständigen Sachbearbeiter als „der Fuffziger Kracher“ bezeichnet wird, weil er in „rechtsschwierigen“ Fällen oder vom Recht durchaus abweichenden jedoch von ihm dennoch so gewünschten Entscheidungen mit dem Zusammenklatschen beider Hände demonstrativ einen braunen Fünfzigmarkschein in den zwischen beiden Händen gehaltenen Pass einlegt. Die nunmehr gewesene stellvertretende Amtsleiterin lässt sich nach Vorgespräch mit dem Staatsanwalt auf eine polizeiliche Vernehmung ein. Sie bestreitet alle Vorwürfe entschieden und beteuert immer wieder ihre Unschuld. Sie sei die allerbeste Sachbearbeiterin in dieser Behörde, sie habe doch alle schwierigen Entscheidungen zu treffen gehabt. Im Übrigen seien dies durchweg doch alles Ermessensentscheidungen, die sie nach bestem Wissen und Gewissen getroffen habe. In einer Pause der Vernehmung wird Bokolic von einem der Kollegen, die die übrigen Sachbearbeiter in Einzelvernehmungen verarzten, ein Zettel zugeschoben, auf dem ein Name geschrieben steht und die Bemerkung „soll ein Verhältnis mit ALV haben“. ALV ist die Abkürzung für Amtsleitervertreter. Der genannte Name ist der eines Antragstellers, dessen Akte im bewussten Stapel gelegen hatte. Zur letzten Entscheidung in dieser Akte besagt das Kurzgutachten unmissverständlich: „Die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach rechtlich einwandfreier Ablehnung durch den vorherigen Sachbearbeiter ist klar rechtsmissbräuchlich“. Bokolic setzt die Vernehmung der immer noch leugnenden Dame fort. Er legt ihr auch die besagte Akte vor. Sie erbleicht und beginnt zu weinen. Nachdem sie sich etwas beruhigt hat, bittet Bokolic die Dame anhand dieser Akte, aus der er deren letzte positive Entscheidung, zusammen mit dem Kommentar des Gutachters, entnommen hat, erneut zu prüfen und eine ausländerrechtliche Entscheidung zu treffen und zu begründen. Nach einer halben Stunde wird Bokolic die schriftlich niedergelegte Entscheidung von der Dame mit ausführlicher Begründung übergeben. Bokolic liest die zwei handschriftlich verfassten Seiten durch und stellt im Anschluss daran nur noch die Frage: „Und warum haben Sie damals nicht so entschieden“??? Daraufhin legt die Dame ein umfassendes über dreißig Seiten langes Geständnis ab. Wie üblich lässt Bokolic sich und der Dame genügend Zeit, im Anschluss an die Niederschrift des Protokolls, die einzelnen Seiten der Vernehmung mit allen Anlagen durchzulesen, um strittige Formulierungen zu verwerfen oder zu berichtigen und Ergänzungen oder Randbemerkungen anzubringen. Ergänzungen und Korrekturen werden von der Dame selbst handschriftlich angebracht, jede Seite mit Namenskürzel abgezeichnet. Die erwähnte Entscheidung wird zum Bestandteil der Vernehmung gemacht. Auf Seite achtundzwanzig angekommen, wird von einem Staatsanwalt die Verifizierung der Vernehmung abrupt abgebrochen, der meint, es sei wichtiger die Dame dem Haftrichter vorzuführen. Der Haftrichter nimmt unter Bezug auf das ausführliche Geständnis vor der Polizei ein pauschales nichts sagendes Geständnis zu Protokoll und entlässt die Dame in die Freiheit, weil nach diesem Geständnis Verdunkelungsgefahr nicht mehr gegeben ist. Drei Tage später wird das Geständnis durch einen Schriftsatz des von der Dame, wie von allen anderen Beschuldigten, zwischenzeitlich hinzugezogenen Anwaltes widerrufen. Der Anwalt begründet dies mit der Weisung des Staatssekretärs zu den Abschiebevorgängen. Die darüber in der kriminalpolizeilichen Vernehmung eingeräumten Zahlungen und sonstigen Vergünstigungen bestreitet er, und begründet dies wiederum mit einem Blackout seiner Mandantin, der durch Druck des vernehmenden Beamten zustande gekommen sei. Im Übrigen bemängelt er die fehlende Schlussunterschrift seiner Mandantin unter der Vernehmung. Im später stattfindenden Prozess lässt sich dieser Link-Rechtsanwalt dazu herab, Fotokopien der Vernehmung vorzulegen, in denen alle handschriftlichen Änderungen und alle Abzeichnungen seiner Mandantin sorgsam abgedeckt sind. Erst als Bokolic mit dem im Sammelverfahren abgelegten Original dieser Vernehmung nachweisen kann, dass die Dame sehr wohl eigenhändig die Vernehmung verifiziert, in strittigen Formulierungen sogar handschriftlich abgeändert hat, lässt sich der Verteidiger dazu herab zu erklären: „Es handelt sich offensichtlich um einen versehentlichen Kopierfehler meiner Kanzlei“. Die Dame gibt allerdings gegenüber dem Vorsitzenden Richter zu, dass sie weder zu der Aussage genötigt worden ist noch vernehmungsunfähig gewesen ist. So hat ihr Verteidiger sein Pulver endgültig verschossen. Während die örtliche zuständige Kripo die Ermittlungen gegen die Sachbearbeiter der Behörde und deren Vorgesetzte weiterführt, sind nach Absprache zwischen den involvierten Staatsanwaltschaften die Ermittlungen gegen die Rechtsvertreter und deren Vertreter bei Bokolic und seinem Kollegen Helmuth gelandet. Schuld daran sind die eingeleiteten Verfahren, die ähnliche Schuldvorwürfe betreffen, und von der Schwerpunktstaatsanwaltschaft beim Landeskriminalamt geführt werden.

 

 

Angriff und Gegenangriff

 

Bokolic, sein Kollege und ihre beiden Staatsanwälte haben sich am darauffolgenden Montag zu einer Besprechung in ihren Diensträumen auf Zeit bei der örtlichen Kripo eingefunden, um Ermittlungsschritte zu besprechen und mit den Kollegen der örtlichen Kripo abzusprechen. Kaum haben sie mit ihrer Besprechung begonnen, da klopft es an die Tür, die nach kurzem Zögern von Frau Baikalsee geöffnete wird. Bokolic kennt Frau Baikalsee bereits aus anderen Ermittlungen. Sie ist die Ehefrau eines Rechtsanwaltes sowie Bürovorsteherin in dessen Praxis. Herr Baikalsee ist aufgrund seines hohen Alters und einer Krankheit nur in der Lage Geschäfte im Büro, und nur in seltenen Fällen persönlich vor Gericht zu erledigen. Alle Behördengänge, wie auch die normalen Geschäftskontakte mit den Klienten nimmt daher Frau Baikalsee stellvertretend für ihn wahr. Zwischen Bokolic und Frau Baikalsee hat sich während der Ermittlungen in anderer Sache ein seltsames Verhältnis ergeben. Frau Baikalsee handelt offensichtlich nach der Maxime „der Zweck heiligt die Mittel“ ist aber trotzdem in manchen Dingen sentimental. Mit Bokolic ist sie von Anfang an gut zurande gekommen, weil sie ihn nach erstem Kontakt mit ihrem früh verstorbenen Erstgeborenen gleichgesetzt hat und seitdem ein abergläubisches Vertrauen in ihn setzt. In ihrem Verhalten bleibt sie trotzdem immer die gerissene schlaue Alte, die sich jederzeit gut in Szene zu setzen weiß. So ist es auch diesmal. Während Frau Baikalsee bei sonstigen Auftritten immer durchgestylt und modisch gekleidet die Dame der gehobenen Gesellschaft spielt, steht diesmal eine alte, bekümmert dreinschauende, verhärmte Sünderin in der Tür. Ein graues Kittelkleid vervollständigt den Eindruck einer Büßerin in Sack und Asche ebenso, wie die strähnig zurückgekämmten Haare und das graugelbe nicht geschminkte Gesicht. Kein Schmuck, kein Rouge, kein Parfüm ist zu bemerken. Statt ihrer teuren Krokotasche trägt sie einen zerknitterten „Türkenbeutel“ in der Hand. Mit theatralischer Geste stürzt sie, alle, selbst Bokolic, ignorierend, auf den ihr bekannten Staatsanwalt zu und zetert „So verhaften Sie mich doch, Herr Staatsanwalt.“ Dabei lässt sie die Tasche fallen, hebt ihre Hände vor die Brust und deutet die Hände mit den Knöcheln zusammenlegend, symbolisch ihre Bereitschaft an, sich Handschellen anlegen zu lassen. Auf die barsche Frage: „Was soll das, Frau Baikalsee?“, wendet diese sich wie schutzheischend zu Bokolic, hebt die Plastiktüte vom Boden, öffnet diese und zählt mit fast erstickter Stimme auf, welche Utensilien sie vorsorglich für den Fall ihrer Inhaftierung bereits mitgebracht hat. Die Dame ist nicht schlecht vorbereitet, das muss sogar der verblüffte Staatsanwalt nachsichtig lächelnd, eingestehen. Ein Nachthemd, Unterwäsche, Kulturbeutel, Pantoffel, Schreibzeug, Papier und nicht zu vergessen auch religiöse Literatur zur Erbauung füllen den „Türkenbeutel“. Kaum haben die versammelten Rechtsgelehrten und Ermittler sich von dem ersten präventiven Schlag von Frau Baikalsee erholt, da folgen Schlag auf Schlag alle möglichen Manöver zur Ablenkung, Gegenangriff, Entlastungsangriff und wieder Angriff in wildem Durcheinander. „Ich habe mich doch freiwillig gestellt.“ Dabei setzt sie sich demonstrativ auf den einzig freien Stuhl vor Bokolic’s Schreibtisch und schaut den Staatsanwalt herausfordernd an. „Ich möchte ein Geständnis ablegen. Fragen sie mich ruhig nach allem, was sie wissen möchten“, während sie aus den Tiefen ihrer Plastiktüte ein zerknittertes Kuvert herauszieht, es triumphierend über ihrem Kopf schwenkt und aus diesem einen Zettel herauszieht, den sie dem verdutzten Staatsanwalt anklagend präsentiert. „Aber hier sehen Sie doch selbst, ich bin nicht vernehmungsfähig, das hat mir mein Arzt noch heute Morgen schriftlich bestätigt“. Weiter kramt sie in ihrer Tüte, zieht Röhrchen und Schachteln heraus, sortiert rote, gelbe und grüne Pillen und bittet mit dramatisch verfallender Stimme um ein Glas Wasser. Bokolic kennt diese Inszenierungen nun schon lange genug. Er steht auf, drängt die Kollegen und Staatsanwälte aus dem Raum, lässt sich ein Glas Wasser bringen und verspricht binnen fünf Minuten zusammen mit Frau Baikalsee eine vernünftige Auflösung des dramatischen Auftritts zu erreichen. Fünf Minuten später bittet Bokolic den für die Ermittlungen gegen das Ehepaar Baikalsee zuständigen Staatsanwalt ins Zimmer. Binnen weiterer fünf Minuten sind die Fronten geklärt, Frau Baikalsee erklärt sich zu einer informatorischen Befragung über die ihr bekannten Vorgänge in der Ausländerbehörde bereit. Während der Befragung startet sie, nach grober Schilderung strafrechtlich durchaus relevanter Bestechungen und der Arbeitsweisen im Ausländeramt, erneut einen Entlastungsangriff, indem sie eine neue Front aufmacht, wohl wissend, dass die Truppen der Kripo begrenzt sind und diese unmöglich an zwei oder drei Fronten zugleich mit gebotener Intensität kämpfen können. Am Abend hat Frau Baikalsee die Staatsanwaltschaft und die Kripo durch unerwartete Aussagen zu russischen Falschurkunden und der Identität des Urkundenfälschers gezwungen, einen neuen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen, und, noch vor Beginn der strafprozessual festgeschriebenen Nachtzeit, wegen begründeter Gefahr im Verzuge, Wohnungen und Büroräume der Verdächtigen zu durchsuchen, sowie den von ihr als Urkundenfälscher beschuldigten Russen festzunehmen. Bokolic ist damit mit einem Schlag um mehr als achtzehn Ermittlungsverfahren reicher und die Vorstellung von einem geruhsamen Sommer ärmer geworden.

 

 

Gelungene Verfahrensabschlüsse

 

Die Prozesse gegen die korrupten Bediensteten fallen, wie nicht anders erwartet, mit teilweise recht seltsamen Urteilsbegründungen erfreulich milde aus. Offensichtlich nicht milde genug für die Damen und Herren, die allesamt der Meinung sind, sie seien zu Unrecht bestraft und die nun in die Berufung oder in Revision gehen, um so der drohenden Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst zuvor zu kommen oder auch ihre erneute Wiederanstellung zu erzwingen. Die Rechtsanwälte führen vorgebliche Befangenheit der Staatsanwaltschaft ebenso an, wie angeblich erpresste Geständnisse und unterschlagene Beweismittel. Bokolic und seinen Mitstreiter müsste dies nicht berühren, da ihre Verfahren gegen die korrumpierenden Vertreter der Vermittlerzunft hiervon wenig berührt werden. Trotzdem ist es ärgerlich zusehen zu müssen, wie korrupte Beamte mithilfe ihrer Rechtsbeistände, dem Rechtsstaat zum Hohn, einen schieren Rechtsmittelstaat ausrufen wollen. Ausgerechnet Frau Baikalsee sorgt für einen zügigen Abschluss der Verfahren. Listig wie immer hat sie begriffen, dass die einzige Chance für Sie und ihren Mann darin besteht, sich teilweise schuldig zu bekennen, um im Gegenzug ein mildes Gesamturteil zu erhalten. Ohne Geständnis, das weiß Frau Baikalsee, wird die Staatsanwaltschaft keinesfalls rasche, rechtskräftige Urteile in diesen Ermittlungskomplexen erreichen. Kurz nach der ersten Anklageerhebung im Komplex Ausländeramtsbestechung gibt es eine Besprechung zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht. Danach geht alles sehr schnell. Nach dem offiziellen Sitzungsplan für die Verhandlung ist über einen Zeitraum von acht Wochen terminiert. Am ersten Tage wird die Anklage verlesen und die Angeklagte zu ihrer Person gehört. Am zweiten Tag gibt die Angeklagte ein Statement zur Sache ab, in dem sie angibt, an alle Sachbearbeiter des Amtes Zahlungen geleistet zu haben und dafür auch rechtswidrige Bescheide erwartet und bekommen zu haben. Danach werden zwei Zeugen, darunter auch Bokolic zu einzelnen Fällen gehört und, nach kurzem Plädoyer von allen Seiten, wird nach ebenso kurzer Beratung das Urteil gefällt. Frau Baikalsee wird wegen Bestechung der Amtsträger, es folgt namentliche Aufstellung xxx in den Fällen yyy, zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Strafmaß fällt so aus, dass jede weitere Verurteilung innerhalb der Bewährungszeit automatisch zum Widerruf der Bewährung führen muss. In der Begründung für die milde Gesamtstrafe wird hervorgehoben, dass ihr freimütiges Geständnis und ihr Verhalten vor Gericht hierzu wesentlich beigetragen haben. Zwei Dinge sind am Rande dieser Verhandlung Bokolic besonders im Gedächtnis geblieben. Auf die Frage an die Angeklagte, ob diese levantinischen Zustände bei der Bearbeitung der Anträge ihr denn nicht mehr als seltsam vorkamen, antwortete die Angeklagte: „Aber Herr Richter, ich selbst stamme doch aus einem Land, in dem ihrer Meinung nach solche Zustände schon Jahrhunderte lang herrschen. Bei uns zuhause wurde stillschweigend für jede behördliche Leistungen ein Bakschisch gegeben. Hier in diesem Land, bin ich von „preußischen“ Staatsdienern aufgefordert worden eine bestimmte Summe zu zahlen. Im Übrigen reden wir hier nur von der Ausländerbehörde dieser Stadt; was aber ist mit Sozialbehörde, Flüchtlingsdienst, Bauamt und all den anderen Behörden?“ Dies jedoch stand nicht auf der Tagesordnung des Hohen Hauses. Keine acht Tage nach dem noch in der Verhandlung von allen Seiten für rechtskräftig erklärten Urteil nehmen alle übrigen, von den Ermittlungen betroffenen Bediensteten, Berufungen und Revisionen auf dringliches Anraten ihrer Rechtsbeistände zurück. Damit werden alle Urteile rechtskräftig, und keiner dieser Damen und Herren kehrt in den öffentlichen Dienst zurück. Ermittlungsverfahren gegen „zahlende“ Vertreter der mandantenvertretenden Zunft müssen in der Folge wegen der Vorlage ärztlicher Atteste wegen „andauernder nicht vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt werden. Bokolic verfolgt die Serie geistigen oder körperlichen Verfalls mit Geduld. Der Herr „krachende Fuffziger“ wird nach diskretem Hinweis auf die „nicht vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit“ von zuständigen Kammern umgehend aufgefordert, die Tätigkeit als Notar und als Rechtsanwalt niederzulegen, da er, nach den ärztlichen Attesten, unmöglich den geistigen Anforderungen dieses Berufes auf Dauer weiter gewachsen sein könne. Ein weiterer Anwalt zieht es freiwillig vor, in ein anderes Land und dort in eine abhängige Beschäftigung als Firmenberater überzuwechseln. Frau Baikalsee schreibt Bokolic eine letzte Grußkarte zu Weihnachten. Kurz danach erhält Herr Baikalsee ein Schreiben und Bescheid der zuständigen Finanzbehörde: „Aufgrund bekannt gewordener Aussagen in Ermittlungsverfahren gegen, es folgt Auflistung, wurden an Sie folgende Zahlungen für außergerichtliche Vertretungen geleistet, wieder folgt eine Auflistung. Diese Zahlungen sind in den vorliegenden Steuererklärungen nicht ausgewiesen. Demzufolge ergeht neuer Bescheid über geschätzte Steuern für die Jahre gemäß Auflistung über DM --, es folgt eine mehr als sechsstellige Summe“. Nach Kenntnis von Bokolic hat die Familie Baikalsee daraufhin ihre Villa im Tessin und andere Immobilien verkauft, um das Finanzamt zu befriedigen. Dieser Vorgang fällt, wie Anwaltshonorare, unter den von Bokolic geschätzten Begriff der „Sonstigen ausgleichenden Gerechtigkeit“.