Dieser Wahlspruch meiner Großmutter über Essen und Trinken, Leib und Seele beschreibt das Wesen des Saarländers besser als es irgendeine Abhandlung sonst vermöchte.
Alt geworden, fällt es schwer, sich auf den Pfaden seiner Kindheit und Jugend zu bewegen. Mein Gedächtnis erlaubt verschiedene Arten der Erinnerung, die untrennbar mit den Sinnen verbunden sind, die bei ihrer Speicherung beteiligt sind. Geruchs- Tast- und Geschmackssinn führen die Erinnerung meist zu den einfachen Dingen des Lebens. Weitergehend sind sie jedoch Zielmarken, die unter günstigen Umständen visuelle Erinnerungen an einzelne Begebenheiten ins Bewusstsein zurückrufen.
Es ist ein sonniger Herbsttag. Wir kommen soeben von einem längeren Spaziergang im Britzer Garten zurück, gehen an den Kleingärten vorbei zu unserem Pkw der auf dem Parkplatz an der Tauernallee abgestellt ist. Aus einem der Gärten steigt Rauch auf. Hier verbrennt jemand verbotswidrig Gartenabfälle, nicht irgendwelche Gartenabfälle. Was mir in die Nase steigt ist unzweifelhaft der Rauch eines Kartoffelkrautfeuers. Ilse chauffiert, wie immer und ich sitze gedankenverloren auf dem Beifahrersitz:
Der Himmel über den Hügeln rund um das Dorf im Tal ist weit und blau. In der Ferne sind die baumbestandenen Kuppen bereits in die farbenprächtige Palette des nahenden Herbstes getaucht. Die Erwachsenen vor uns gehen gebückt in einer Reihe durch lehmbraune Furchen und sammeln die erdbehafteten Knollen aus dem gelb gewordenen Kraut in die Säcke. Wir Kinder schichten das trockene Kraut in großen Haufen auf, sammeln die kleinen oder beschädigten Knollen ein und werfen diese, nachdem die angezündeten Krauthaufen fast heruntergebrannt sind, in die noch immer heiß vor sich hin glimmende Glut. Langsam mischt sich in den Geruch des verbrennenden Krautes der Duft der vor sich hin kokelnden Pellkartoffeln. Als die Säcke mit Kartoffeln endlich auf dem Leiterwagen gestapelt sind, der Großvater bedächtig die Zugtiere von der neben dem abgeernteten Kartoffelfeld liegenden Wiese zum Einspannen an die Wagendeichsel führt, dürfen wir mit Forken die Kartoffeln aus der Glut holen. Dann stehen Erwachsene wie Kinder in der herbstlich kühlen Abenddämmerung um das glimmende Feuer und genießen den kräftigen Geschmack der dampfenden Erdäpfel aus der angesengten Schale. Wir Kinder tanzen mit den Grombiern in der Hand um das Grombierfeuer, springen ab und zu auch durch die kleinen Flammen, so dass Funken aufstieben, während die Erwachsenen, die vom langen Bücken schmerzenden Rücken dem wärmenden Feuer zugewandt, sich leise miteinander unterhalten. Erst als die untergehende Sonne den gegenüberliegenden Horizont in hellen Rot noch einmal aufleuchten lässt, werden wir Kinder auf die Säcke gehoben, und mit leichtem „Hü“ und „Hott“ setzt sich der Wagen in Richtung auf das Dorf im Tal in Bewegung, gefolgt von den in ihrer Müdigkeit verstummten Kartoffellesern.
Wir wohnen ganz im Süden Berlins, hart am ehemaligen Grenzstreifen zum ländlich geprägten Brandenburg, in einer der nach der Wende hochgezogenen dreistöckigen Stadtvillen im Erdgeschoss. Unser Nachbar auf der anderen Seite der Straße, alteingesessener Lichtenrader, bewohnt ein Zweifamilienhaus, erbaut zwischen den Weltkriegen auf einem weitläufigen Grundstück. Trotz seines hohen Alters sieht man ihn das ganze Jahr über jeden Tag in seinem Garten vor sich hin werkeln. Ich bin wohl der einzige Neuberliner, der mit ihm regelmäßig ein paar Worte wechselt, meist über das Wetter, den Garten und die Zeitläufe. Meine Liebste ist im Frühsommer für ein paar Tage auf Besuch zu Tochter und Enkel nach München gefahren, sodass ich mir Zeit nehmen kann und das Gespräch mit dem Gegenüber dadurch eine mehr persönliche Wendung nimmt. Zum Abschluss und als Dank dafür reicht er mir eine Tüte mit Erzeugnissen aus seinem Garten über den Zaun. Zuhause leere ich die Tüte in der Küche aus; grüne Stangenbohnen, ein Bund Möhren, ein Strauß Petersilie und ein Strauß Bohnenkraut, alles gartenfrisch, intensiv im Geruch, wie man es nie und nimmer von der Supermarktware erwarten kann.
Ein halbes Jahrhundert zuvor: Nach der dritten Stunde haben wir schulfrei bekommen. So sitze ich zu ungewohnter früher Stunde an der einen Seite des Küchentisches und mache meine Hausaufgaben. „Schnippelschesbohnesupp“ gibt es heute zu Mittag. Meine Großmutter steht am linolbelegtem Küchentisch, ihre blaue Schürze vorgebunden, das Kneipchen - ihr sorgsam gehütetes gebogenes Messerchen - in der Hand und schnippelt die langen halbrunden Stangenbohnen. An jedem Böhnchen schneidet sie mit geübtem Griff zuerst den Stielansatz an, keinesfalls wird er ganz abgetrennt. Dann zieht sie mit einer zügigen Bewegung des Messers den Stielansatz in Längsrichtung entlang dem leichten Spalt des Böhnchens und entfernt damit den Faden, der in dem Spalt die beiden Bohnenhälften verbindet, um zu guter Letzt mit eleganter Bewegung am entgegen gesetzten Ende des Böhnchens angelangt den Stielansatz mitsamt Faden und der harten Spitze abzutrennen , die ohne jede weitere Beachtung auf einen Bogen untergebreitetes Zeitungspapier fallen. Mit schräg angesetzten schnellen Schnitten wird das so vorbehandelte Böhnchen in gleichmäßig kurze Stücke zerschnippelt, die in einer emaillierten Schüssel mit sauberem Wasser landen. Nach exakt jedem zehnten Böhnchen wendet sich Großmutter dem Küchenherd zu. Bei der ersten Unterbrechung hebt sie mit einem Haken die inneren Ringe von der für große Töpfe vorgesehenen Kochstelle und legt von oben zwei dicke Holzscheite nach. Dann greift sie zu dem über dem Herd befindlichen Pfannenbord, nimmt die große gusseiserne Pfanne herunter, stellt sie auf die Kochstelle, streicht mit einem Löffel zweimal Schmalz aus dem tönernen Schmalztopf in die Pfanne, wickelt aus einem Bogen Ölpapier die darin befindlichen Rinderknochen heraus, legt die beiden Markknochen auf das langsam in der Pfanne zerlaufende Schmalz, wendet sich dem Küchenschrank zu, nimmt aus der mittleren großen Schublade den Holzschlegel und bearbeitet den auf dem Hackbrett abgelegten Beinknochen am verdickten Gelenkansatz mit drei vier kräftigen Schlägen, bis dieser leichte Risse zeigt. Danach wandert der Knochen zu den Markknochen in die Pfanne. Großmutter wendet sich den nächsten zehn Bohnen zu. Bei der zweiten Unterbrechung ihrer Schnippelei greift Großmutter mit der rechten Hand zur Schöpfkelle, die neben Topflappen an einer beiderseits und frontseitig auf Höhe der Herdplatte umlaufenden Messingstange hängt, mit der linken Hand hebt sie, ohne den Topflappen zu benutzen, den messingfarbenen Deckel des kupfernen Wasserschiffchen hoch, das neben der Feuerstelle in die Herdplatte eingelassen ist, schöpft zweimal eine volle Kelle heißes Wasser heraus, das sie langsam und vorsichtig in die Pfanne zu den angerösteten Knochen gießt. Bevor sie sich erneut den Bohnen zuwendet nimmt sie den Deckel vom Bord und legt ihn als Spritzschutz schräg auf der Pfanne auf. Bei der dritten Unterbrechung der Bohnenschnippelei bückt sich die Großmutter vor dem Küchenschrank und nimmt den Aluminiumtopf aus dem linken Unterteil, richtet sich unter leisem Ächzen wieder auf, geht zum Herd, wo sie den Topf auf der Kochplatte abstellt. Sie nimmt Deckel von Kochtopf und Pfanne, greift zu den Topflappen, hebt die Pfanne hoch und befördert Knochen und Brühe mit einem Schwung in den Kochtopf. Nachdem sie die Pfanne in der Spüle abgestellt hat, greift sie mit der einen Hand wieder die Schöpfkelle mit der anderen den Deckel des Wasserreservoirs und schöpft nunmehr fünf Kellen heißes Wasser in den Topf. Danach werden die Reste aus der Pfanne mit einer weiteren Kelle Wasser sorgfältig in den Kochtopf ausgeschwenkt, der Deckel aufgesetzt, die Kelle weggehängt und die Pfanne mitsamt ihrem Deckel nach Säuberung im steinernen Spülbecken wieder auf das Bord gehoben. Nach der vierten Runde der Bohnenschnippelei schöpft Großmutter mit einem gelöcherten Schaumlöffel, der auf der anderen Seite des Herdes an der zuvor bereits erwähnten Messingstange hängt, sorgsam den Schaum im Topf ab, der sich auf der kochenden Brühe bildet, dann bückt sie sich, wiederum leicht ächzend, nach dem Korb mit dem Feuerholz, legt zwei Holzscheite durch die Ofentür nach und schließt etwas die Luftzufuhr an der unteren Ofenklappe. Nach Runde fünf, die einige Bohnen mehr umfasst, ist die Schnippelei beendet. Vom Büffet nimmt Großmutter den kleinen Weidenkorb, faltet den Bohnenabfall in der untergelegten Zeitung zusammen, legt diesen mit ihrem Kneipchen in den Korb und verlässt Küche und Haus in Richtung Garten. Ich hänge mich an ihren Rockzipfel, weil ich neugierig bis zum „geht nicht mehr“ wissen will, wie und womit Großmutters Bohnensuppe entsteht. Die Bohnenreste landen mitsamt dem Zeitungspapier auf dem Kompost. Vom Haken neben der Bienenhaustür greift Großmutter nach einer Handharke, mit der sie sorgsam aus dem obersten Beet vor dem Bienenhaus eine Sellerieknolle ausbuddelt. Aus den unteren Beeten wandern nacheinander eine Staudensellerie und einige Jungmöhrchen in den Korb. Danach wird die Harke zurückgebracht und als Abschluss aus der untersten Rabatte mit dem Kneipchen je ein Bund Petersilie, Schnittlauch und Bohnenkraut geschnitten. Wieder in der Küche angekommen, werden die frisch geernteten Suppenzutaten gewaschen, teils geschält und fein gewürfelt, teils gehackt oder geschnitten. Erneut entschäumt, werden aus der Brühe die Knochen gefischt, danach werden im Abstand von fünf Minuten zuerst geschnippelte Möhren Sellerie und Selleriestängel, dann die geschnippelten Bohnen mit gehacktem Bohnen- und Selleriekraut sowie fünf Kellen heißes Wasser hinzu gegeben und mit Salz, Pfeffer, Maggi und Muskat gewürzt. Nach weiteren zehn Minuten, in denen die Großmutter den Tisch gedeckt hat, ich meinen Bruder und meine Mutter aus dem oberen Stockwerk zu Tisch gerufen habe, zieht Großmutter den Topf vom Feuer, verrührt drei vier Löffel Sauerrahm, gehackte Petersilie und Schnittlauch in der Suppe und dann endlich steht kräftig duftend Großmutters „Schnippelschesbohnesupp“ auf dem Tisch. Während ich in Gedanken das Rezept nachvollziehe, sind Bohnen und Möhren aus des Nachbarn Garten geputzt und geschnippelt zusammen mit einem Würfel Fleischbrühe aus dem Tiefkühlfach und maschinengehackten Kräutern in meinen „Supermikrowellenspezialtopf“ gewandert. Fünf Minuten später macht die Mikrowelle „pling“ und ich sitze am Esstisch, vor mir die Bohnensuppe. Halt es fehlt noch etwas. Auch nachdem ich einen halben Becher Sauerrahm eingerührt habe, merke ich, nicht unbedingt am Geschmack, dass mir immer noch etwas fehlt: Ich bin allein mit meiner Bohnensuppe.
Unser Neulandmetzger, mit nur hochwertiger Bioware, bietet nebenbei für die Laufkundschaft am Morgen warme Bouletten und manchmal auch heiße Wurst aus dem Kessel an. An diesem Morgen überkommt mich eine Erinnerung. Was haben Sie heute in dem Kessel? Das ist nicht die übliche „Rheinische Fleischwurst“, die an Berliner Fleischtheken als die höchste Errungenschaft industrieller Fleischabfallwirtschaft verkauft wird. „Nein das ist Fleischwurst nach einem französischen Originalrezept“. Auf dem Heimweg kaufe ich mir noch eine Berliner Schrippe und sitze danach auf einer Bank am Berlin - Lichtenrader Dorfteich, das Papier auf den Knien, in das mir die Metzgerfrau den halben Ring „Lyoner“ eingeschlagen hat, in der linken Hand die Schrippe, in der Rechten die noch warme Fleischwurst und beiße abwechselnd ein Stück von der Schrippe danach ein Stück von der Fleischwurst ab. Während ich genussvoll vor mich hin kaue, steigt vor meinem inneren Auge ein anderes Bild hoch:
Die drei Frauen unserer Familie sitzen abends am Küchentisch, jede von ihnen hat ein kleines Messer vor sich. In der Mitte des Tisches steht ein Weidenkorb mit langen pergamentartigen Röhren, deren Durchmesser unterschiedlich fünf bis zu zehn Zentimeter beträgt. Neben dem Korb liegen drei große Knäuel mit Wurstgarn, deren Enden sich jeweils zur Rechten der Frauen auf dem Tisch schlängelt. Etwa dreißig Zentimeter Wurstkordel abschneiden, an einem Ende einen Knoten aufsetzen und in einer Schleife auslegen, danach aus dem Korb eine Röhre nehmen und diese einmal, zweimal, dreimal, viermal der Länge nach falten, dabei die Falten mit dem Messerrücken scharf andrücken. Nun sieht die Röhre wie eine Ziehharmonika aus. Etwa fünf Zentimeter von einem Ende der Ziehharmonika entfernt wird das Kordelende mit dem Knoten als Schlinge um das gefaltete Pergament geführt, das freie Ende untergezogen, bis eine Schleife übrig bleibt, kräftig zugezogen und ein Knoten aufgesetzt, so dass die Röhre an einem Ende unwiderruflich fest verschlossen ist. Mit der Schleife wird sie auf einen Fleischerhaken gehängt, der mit einer Kordel an der Deckenlampe über dem Tisch befestigt ist. Wenn dreißig Ziehharmonikaröhren am Fleischerhaken hängen wird dieser an die messingfarbene Stange am Küchenherd gehängt und der nächste Fleischerhaken wird auf dieselbe Art und Weise bestückt. Am nächsten Morgen darf ich mit meiner Mutter, die fertigen Röhren im Korb, zur Wurstfabrik. Während meine Mutter im Kontor die Wurstpellen abliefert und ein paar Franken für diese Heimarbeit einstreicht, nimmt mich ein älterer Metzgergeselle auf einen Rundgang durch die große Fabrikhalle mit, um mir zu zeigen, was mit den Pergamentröhren geschieht. Eine junge Frau in einem weißen Kittel, die Haare sauber unter einem Kopftuch versteckt, steht an der Wurstfüllmaschine. Ein Metzger befüllt mit dem Eimer voller dampfender Wurstmasse den Trichter am Kopf der Maschine. Die Frau nimmt von einem Fleischerhaken eine der gefalteten Röhren, hängt sie mit dem verschlossenen Ende nach unten in eine Art Doppelzange, indem sie die Ziehharmonika am offenen Ende in ihre Röhrenform bringt und zwischen oberer und unterer Zange einklemmt. Dann drückt sie den an der rechten Seite der Maschine angebrachten Füllhebel nach unten. Durch die Zangenöffnung wird aus dem Trichter darüber die Wurstmasse in die Pergamentröhre gepresst. Die Ziehharmonika wird wieder rund und prall mit Wurstmasse gefüllt. Danach drückt sie die beiden Hebel der Zange kräftig zusammen und verschließt dadurch die Pergamentröhre am oberen Ende mit einer Aluminiumplombe, die als Aluminiumdraht zwischen der oberen und unteren Zange eingelegt ist. Nachdem die Zange mit ihrer scharfe Lippe das Ende der Plombe vom Draht getrennt hat, nimmt sie die fertig gefüllte Wurststange mit der Schlaufe am unteren Ende aus der Maschine, hängt sie auf ein neben der Maschine stehendes fahrbares Vierkantgestell und legt die nächste Pergamentröhre zum Befüllen ein. Der Metzgergeselle zeigt mir noch, wie die bestückten Gestelle in die Räucherkammer gelangen und erklärt mir, dass die Wurststangen danach als Salami ausgeliefert werden. Zum Ende der Führung erhalte ich aus dem Kessel einen ganzen Ring frischer Fleischwurst. Während ich im Kontor auf meine Mutter warte, erzählt mir der Geselle die Geschichte von der saarländischen Lyoner und dem Anfang der Wurstfabrik.
Der Alte hat sein Rezept für die Fleischwurst aus Lothringen mitgebracht. Uns Jungen sagt er immer, dass das beste Fleisch von allen in der Landwirtschaft gehaltenen Vierbeinern in eine gute Fleischwurst gehört, also Schwein, Kalb, Rind, Ziege, Esel und Pferd. In der soeben geschilderten Reihenfolge sollen sie auch mengenmäßig fein abgestimmt sein, viel Schwein, weniger Kalb und Rind noch weniger Ziege und Esel und nur ein Hauch von Pferd. Ebenso verfährt der Alte mit Gewürzen. Zwar kommen alle üblichen Gewürze in seine Fleischwurst, jedoch immer gut austariert, von keinem Gewürz im Übermaß. Der verwendete Darm ist hauchdünn und durchscheinend, lässt sich sowohl von der warmen als auch von der kalten Wurst sogar ohne Messer abziehen. Zweimal in der Woche spannt der Alte den großen Bernhardiner vor den zweirädrigen Karren, hievt den Kessel mit dem brühend heißen Wurstwasser und den darin schwimmenden Fleischwurstringen auf den Karren und zieht durch die Straßen des Dorfes, an Kreuzungen und Weggabelungen anhaltend, mit der an der Deichsel hängenden Glocke die Kundschaft rufend. Die Bergleute im Dorf nehmen öfter einen Kringel Lyoner mit zur Schicht. So kommt es, dass wenige Jahre später schon zweimal in der Woche vom Hof der Metzgerei ein dreirädriger Holzvergaser mit Wurstwaren zu den Kantinen der saarländischen Kohlegruben abfährt. Noch einige Zeit später wollen auch die Hüttenarbeiter in Neunkirchen, Völklingen, Burbach und selbst an der unteren Saar die wohlschmeckenden Wurstwaren nicht mehr missen. Aus der kleinen Dorfmetzgerei entsteht so die Wurstfabrik. Jahre später: Die französische Armee sucht für ihre Soldaten in den Kolonien tropentaugliche Wurstkonserven. Die kleine Wurstfabrik muss erweitert werden. In der Zwischenzeit erstreckt sich das Fabrikgelände vom Marktplatz bis an die Ill und an die Straße, die über die Ill zum Bahnhof führt. Als nach dem ersten Ungarnaufstand viele Facharbeiter ihr Land verlassen, bietet die Wurstfabrik den Gulaschspezialisten und Salamikundigen Lohn und Brot. Immer größer immer mehr soll es sein. Die Fabrik zieht um, dorthin wo genügend Freifläche vorhanden ist. Damit wird jedoch auch der Hang zur industriellen Massenware befördert. Meine Lyoner kaufe ich seitdem nur noch bei wenigen Metzgern, die wissen, was in eine gute Lyoner gehört. Einen davon fand ich vor vielen Jahren in Frankfurt am Main an der Hanauer Landstraße und nun wieder einen in der Bahnhofstraße in Berlin - Lichtenrade. Gott bewahre die Gesundheit dieser Metzger, damit ich wenigstens ab und an eine gute saarländische Fleischwurst genießen kann.
Brandenburg hat mit meiner Heimat, dem Saarland etwas gemeinsam, das ist die ehemalige Zugehörigkeit zu Preußen, was sich an der bis heute existierenden Provinzial Haftpflicht Feuerversicherung und zum zweiten an dem gleichermaßen von der Obrigkeit verordneten Kartoffelanbau zeigt. So kommt es, dass bis heute die Bundesrepublik zweigeteilt ist in Gebiete, in denen Mehlspeisen wie Spätzle und Mehlknödel dominieren und solche in denen die Kartoffel als Grundlage für Klöße bevorzugt wird. Nach einem Wochenendausflug sind wir mit Bekannten im Brandenburgischen in einem Landgasthof eingekehrt. Vom Nebentisch weht mir ein kräftiger Duft in die Nase. Ich schaue hin und sehe auf dem Teller eines älteren gesetzten Herren einen Braten und daneben Klöße. Nicht einfach Kartoffelklöße, nein dunkelgraue, aus rohen Kartoffeln handgeriebene Klöße, die unverwechselbar so riechen, wie die meiner Großmutter:
Wenn die Tage kürzer werden und die kältere Jahreszeit anbricht, ist es nach Meinung meiner Großmutter Zeit für etwas deftigere Genüsse. Dazu gehören die in ihrer Heimat, der Gegend zwischen Glan und Nahe, wie auch im Gebiet zwischen Saar und Hunsrück so beliebten Kartoffelklöße. Dibbelabbes, ein typisch saarländisches Gericht, ist eigentlich kein Kloßgericht. Er entspricht eher den in anderen Gegenden bekannten Kartoffelpuffern und wird aus rohen, geriebenen Kartoffeln hergestellt. Großmutter reibt neben den Kartoffeln noch einige Zwiebeln, stellt eine gusseiserne Pfanne auf den Herd, lässt gewürfelten Schinkenspeck in Griebenschmalz goldbraun werden und gibt nach und nach die mit Muskatnuss gewürzte Kartoffelmasse dazu. Sobald die Masse anfängt leicht am Pfannenboden anzubacken, zerpflückt Großmutter mit dem Pfannenwender die Masse unter beständigem Wenden in kleinere Stücke und wartet, bis diese Stücke rundherum eine goldbraune Farbe angenommen haben. Danach schiebt sie die Pfanne auf die etwas kühlere Stelle der Ofenplatte, legt den Deckel auf und lässt den Dibbelabbes in Ruhe nachgaren. Zusammen mit einer Schüssel Sauerrahm, den Großmutter noch mit Schnittlauch, Petersilie und sonstige Gartenkräutern verfeinert, ergibt sich so ein einfaches aber deftiges Gericht. „Hoorische“, so benannt nach ihrem etwas haarigen Äußeren und „Gefüllte“, so genannt nach ihrem wohlschmeckenden Inneren, gehören solange ich denken kann zusammen, wie Mann und Frau. Großmutter hat immer darauf bestanden, diese beiden so verschiedenen Klöße gemeinsam zuzubereiten. So schwammen die „Hoorische“ und die „Gefüllte“ nacheinander in der gleichen Brühe und dem gleichen Topf, ähnlich zwei alten Eheleuten, die nacheinander in die nur einmal gefüllte Badewanne steigen. Am Tag zuvor füllt Großmutter, nachdem sie die beiden Geißen gemolken, mit Heu und Wasser, die Hühner mit Körnerfutter, die Kaninchen mit Grünfutter und die Sau mit einer warmen Mahlzeit aus dem großen Kessel versorgt hat, aus den Kartoffelkisten im Keller den großen Henkelkorb mit Kartoffeln, die Hälfte mit mittelgroßen, die andere Hälfte mit großen Kartoffeln. Oben in der Küche werden die mittelgroßen Kartoffeln im steinernen Wassertrog gewaschen und im mittelgroßen Topf, bedeckt mit Wasser, auf dem schon vor dem Frühstück in aller Frühe angeheizten Herd zu Pellkartoffeln gekocht. In der Zwischenzeit ist sie wieder in den Keller gestiegen, hat die Ziegenmilch aus dem Eimer in die Butsch geseiht, entrahmt, die Sahne in die kleine, die Milch in die große Kanne gefüllt, danach aus den Legenestern der Hühner die Eier eingesammelt und ist mit beiden Kannen und dem Eierkorb rechtzeitig in die Küche zurück gestiegen, um die Pellkartoffel abzugießen. Die Hälfte davon wird gepellt um heute Mittag zu Bratkartoffeln verarbeitet zu werden. Die andere Hälfte wird in der Schale in einer Schüssel für den morgigen Kartoffelkloßtag kaltgestellt. Da die Hühner recht fleißig Eier gelegt haben, gibt es heute Bratkartoffel mit doppelt gebackenen Spiegeleiern und einen Herbstsalat aus dem Garten. Nachdem Großmutter am nächsten Morgen die Kinder mit Frühstück, danach wie tags zuvor die Tiere versorgt hat, werden zuerst die rohen, dicken Kartoffel geschält und in eine mit einer sauberen Mullbinde ausgeschlagenen Schüssel gerieben. Ist diese Arbeit beendet, hebt die Großmutter die gefüllte Mullbinde an den vier Enden hoch, zwirbelt die Enden kräftig zusammen verknotet die Enden am Stiel eines hölzernen Kochlöffels und hängt sie samt Inhalt am Löffel über die große Schüssel, so dass das überflüssige stärkehaltige Wasser in die Schüssel laufen kann. Jetzt werden die gekochten Kartoffeln vom Vortag aus ihrer Pelle befreit und mit dem Holzstampfer zu Brei gestampft. Der große Kochtopf wird zu zwei Drittel mit Wasser gefüllt und auf die Herdplatte über der Feuerstelle aufgesetzt. Im Garten erntet Großmutter Küchenkräuter, die sie mit einem Wiegemesser fein hackt. Vom Regal unter der Kellertreppe bringt sie je eine Dose Blutwurst und Leberwurst, deren Inhalt in zwei Porzellanschüsseln landet. Zwischendurch dreht sie die Mullbinde etwas weiter zu, damit auch der letzte Rest von Flüssigkeit in die Schüssel darunter tropft. In diese Flüssigkeit würfelt sie drei Scheiben altbackenes Brot, das sie zuvor kurz auf der Herdplatte anröstet. Die rohe Kartoffelmasse ist trocken genug und wird mit gehackten Kräutern, geriebenem Muskat, Salz und Pfeffer gewürzt, in gleichen Hälften auf zwei Schüsseln verteilt. Aus der einen Hälfte formt Großmutter etwa handlange armdicke Würste, die an den Enden spitz zulaufen. Diese werden in das inzwischen sprudelnd aufkochende Wasser im Topf gegeben und werden, sobald sie durchgegart vom Boden wieder aufsteigen mit dem Schöpflöffel in einen gusseisernen Bräter gegeben, wo die „Hoorische“ danach im warmen Backofen etwas ausruhen dürfen. In der Zwischenzeit vermengt Großmutter in weiteren zwei Schüsseln Blut und Leberwurst mit den eingeweichten Brotwürfeln ebenso zu Füllsel wie, unter Zugabe von etwas Mehl und mehrerer Eier den Rest der rohen Kartoffelmasse mit den gekochten und gestampften Kartoffeln zu einem gleichmäßigen Teig, der danach in doppelt faustgroßen Stücken rund ausgerollt mit der Wurstmasse gefüllt zu Klößen geformt wird. Die „Gefüllte“ wandern ins gleiche kochende Wasser wie zuvor die „Hoorische“ und ebenfalls in den gleichen Bräter im Backofen. In einer kleinen Pfanne wird gewürfelter Schinkenspeck mit ebenfalls gewürfelten Zwiebeln angebraten, mit etwas Mehl angeschwitzt, mit zwei Kellen Kloßbrühe und vier Löffeln Sauerrahm ergänzt und die Klöße mit dieser Soße übergossen. Inzwischen hat Großmutter noch etwas Herbstsalat geputzt, gewaschen und mit ihrem selbst gemachten Dressing versehen, den Tisch gedeckt und nun wird ausgeteilt. Den Erwachsenen werden je zwei „Gefüllte“ und zwei „Hoorische“ zugeteilt; wir Kinder bekommen je nach Gusto einen „Gefüllten“ mit Blut- oder Leberwurst oder von jeder Sorte einen halben Kloß. Die übrig gebliebenen „Hoorische“ sind für die Kinder am nächsten Tag bestimmt. In Scheiben geschnitten werden sie in der Pfanne mit Griebenschmalz auf beiden Seiten goldbraun gebacken und mit der restlichen Soße serviert. Hingegen ist die Kloßbrühe Grundlage eines Gemüseeintopfes für die Erwachsenen. Bleibt wider Erwarten ein „Gefüllter“ übrig, so wandert er zur Geschmacksabrundung am nächsten Tag gewürfelt in den Eintopf.
Vom Winterfeldmarkt hat Ilse nach der Arbeit frische Landeier mitgebracht. Mit anderen Worten: Eier von glücklichen Hühnern. Die Schalen sind unregelmäßig gesprenkelt, teils haften Federflaum, Stroh und auch Hühnerdreck an ihnen, und wenn man sie in die Hand nimmt vermeint man noch einen Rest Nestwärme zu spüren. Ilse will sich ihre Lieblingsspeise, doppelt gebackene Spiegeleier mit Stampfkartoffeln und Spinat machen:
In meiner Kindheit sind selbst die Hühner und ihre Eier eine saisongebundene Erscheinung. Die Hühnerfamilie besteht eben nicht aus Batterielegehennen, die auf Hochleistung getrimmt, nur so lange am Leben bleiben, wie ihre Legesaison dauert. Chef der Familie ist ein Hahn, mit gebogenen Schwanzfedern, die in allen Farben des Regenbogens in der Sonne leuchten. Wie es sich gehört steht ihm zur Seite das älteste Huhn, eine ältere Glucke. Sie ist für das Ausbrüten des Nachwuchses im Frühjahr und die Überwachung der kleinen mit zartgelbem Flaum bedeckten Küken zuständig. Im weiteren Hühnerharem sind die ein bis zweijährigen weiblichen Hühner zuständig für die alltägliche Eierproduktion. Die jungen männlichen Küken haben ein meist kurzes Leben. Sobald der Frühling vorbei ist, wandern sie einer nach dem anderen in zweiwöchigem Abstand in die Bratpfanne. Nur wenn der alte Hahn zu unlustig wird und seinen Begattungs- und sonstigen Pflichten nicht mehr nachzukommen weiß, wird dem kräftigsten aus der Schar der Junghähne gestattet, die Stelle des Familienchefs im Hühnerhof einzunehmen und so sein Leben zu verlängern. Den weiblichen Hühnern geht es wie dem alten Hahn erst an den Kragen, wenn sie ihren Pflichten, dem Eierlegen und Kükenausbrüten nicht mehr nachkommen können. Da sie dann jedoch schon zu zäh für die Bratpfanne sind, landen sie als Suppenhühner im Topf und mitsamt der Brühe im Einweckglas auf dem Kellerregal. Im Frühjahr, sobald die Hühner wieder Auslauf auf der Wiese neben dem Haus haben, beginnt für sie auch die Legesaison. Die mehrjährigen Hühner haben seit dem Herbst nur noch unregelmäßig Eier gelegt. Als ob sie es ahnen, beginnen sie, bevor die Ostereierzeit anfängt, jeden Morgen unter lautem Gegacker und unter Hinterlassen eines handwarmen Eies die Legenester zu verlassen. Selbst die jungen einjährigen Hühner legen die ersten wachteleiergroßen Spielzeugeier ins Nest, um hernach auf der Wiese den anderen mit gleichlautem Gegacker zu verkünden, dass sie nun als gleichberechtigte Haremsdamen behandelt werden wollen. Nur die Glucke verbleibt den lieben langen Tag über ihren Eiern brütend auf dem Nest, bis eines Tages, eine Schale nach der anderen aufspringt und strohgelbe Küken aus den braunen, warmen Federflügeln der Glucke die Köpfe hervorstrecken. Tage später machen die diese unter Bewachung von Glucke und Hahn ihren ersten Ausflug auf die Wiese, wo sie die Wochen bis zur Ausbildung ihres braunen Federkleides täglich Auslauf haben. Durch einen Käfig aus Maschendraht geschützt vor Habicht, Fuchs und sonstigen möglichen Feinden üben sie unter Anleitung der Glucke das Zupfen von Grünzeug, das Picken von Körnern und auch das Vertilgen von Insekten und sind in wenigen Wochen so weit gediehen, dass sie danach im Kreise ihrer Hühnerfamilie frei auf der Wiese ihren täglichen Auslauf genießen können. Doch zurück zu den unterschiedlichen Formen der Zubereitung ihrer späteren Legeproduktion:
Die kleinen Junghenneneier sind für uns Kinder bestimmt. Sie werden nur mit einer Nadel auf beiden Seiten angepiekst und danach ohne irgendwelche Zutaten ausgeschlürft. Nur das Nesthäkchen der Familie, das bin ich, hat diese Gewohnheit in jungen Jahren verfeinert, sich ein rohes Ei in eine große Tasse geschlagen, eine Scheibe frisches Brot darüber zerbröselt, mit einem Schuss Maggi, einer Prise Pfeffer, Muskat und Paprikapulver gewürzt, mit einer Gabel „gekläppert“ und dann als „Gekläpperte Eier“ genossen. Sehr viel später wird Maggi durch Sojasoße und Paprikapulver durch Currypulver und Garam Marsala ersetzt. In der Osterzeit gibt es die unterschiedlichsten Variationen gekochter Eier, hart gekochte Eier mit Senf- oder mit Großmutters Tomatensoße - die dem heutigen Ketchup entspricht -, weich gekochte Eier in Scheiben auf Butterbrot, Eiersalat mit all dem was Großmutter an Gemüse eingelegt hat, mit Gurken, Zwiebeln, Rettich oder Mixed Pickels, auch mit Nudeln, Reis oder Kartoffeln, ebenso mit Sauerrahm, Süßrahm oder Kräutervinaigrette. Die Saison der Eiersalate dauert den ganzen Sommer bis in den Herbst an. Danach werden die Hühner legeträger und die wenigen Eier werden zum Kochen und später zur Weihnachtsbäckerei gebraucht.
In den ersten Jahren meiner Saarbrücker Zeit, als ich noch jung und ungebunden in den Tag hinein lebe, habe ich mir angewöhnt im Café zu frühstücken. Neben dem Kaffee gehört hierzu ein gebuttertes Brötchen und ein weich gekochtes Ei im Glas mit etwas Pfeffer und einem Schuss Balsamico. Diese Gewohnheit wird mit zunehmender Sesshaftigkeit aufgegeben und an Stelle des weich gekochten Eies tritt ein, auf einer Scheibe Schinken doppelt gebackenes, auf dunklem Brot mit Kräutern garniertes Spiegelei. Heute steht das Frühstücksei nur noch an Feiertagen auf dem Programm, dann ist ein mittelweich gekochtes Ei wieder in Scheiben geschnitten, gekrönt mit Sahnemeerrettich oberster Belag auf einem gebutterten Lachsbrötchen. Während mir in jungen Jahren zum Spinat mit Stampfkartoffeln Rührei passend erscheint, liebe ich heute - wie ich meine Ilse liebe und wie sie es liebt – eher die Variante mit doppelt gebackenen Eiern. Zu Ostern sind wir seit Jahren regelmäßig zu Besuch bei meinem Schwager und genießen dort - aber nur dort - die doch sehr kalorienreichen Varianten aller denkbaren Eiersalate.
Über die Abneigung zu Graupensuppe und Maismehl und über lebensrettendes Haferschrot:
Unter den Linden steht am Straßenrand eine zweispännige Pferdedroschke und wartet auf Touristen, die auf eine
nostalgische Sightseeing Tour über den Hauptstadtcorso erpicht sind. Der Kutscher im historischen Kostüm des „Eisernen Gustav“ macht auf dem Kutschbock Brotzeit. Den klapprigen Droschkengäulen
hat er die Futtersäcke vorgehängt, aus denen mir der vertraute Geruch von Haferschrot entgegenweht: Gegen zwei Speisen habe ich in frühester Jugend eine bis heute unüberwindliche Abneigung
entwickelt. Dies ist zum Ersten Graupensuppe und zum Zweiten Maisbrot. .... Sechs Wochen gibt es Maisbrot zum Frühstück und Abendessen,
Graupensuppe zum Mittagessen, ab und an etwas aufgemöbelt mit Grünzeug aus dem Garten. Das Maismehl ist von den Amerikanern den Bäckereien in der „französische Zone“ zugeteilt worden. Es hat wohl
das Verfallsdatum schon längst überschritten, was man unschwer an den öfter mit eingebackenen Maden erkennt. .... Nachdem mein Gesicht die gelbe Hautfarbe eines Mittelasiaten annimmt, diagnostiziert unser Hausarzt eine
akute Gelbsucht. Mehr als bitteren Kräutertee kann er mir jedoch nicht verordnen, da die Apotheke genauso geplündert ist, wie alle anderen Ladengeschäfte. Mein Weiterleben verdanke ich
letztendlich meinem Großvater väterlicherseits, der seinem Ackergaul die letzten Haferschrotrationen kürzt und, da unsere beiden Ziegen trocken stehen, jeden Tag mit einer Kanne entrahmter
Kuhmilch aufkreuzt. ....
Meine Liebste hat für ihren Enkel, der aus München zu Besuch gekommen ist, von Lehmann, dem einzigen noch im Berliner Süden verbliebenen Milchbauern, frische, kuhwarme Milch gekauft. Trotz des mehrmaligen energischen Protestes ihrerseits genehmige ich mir einen Schluck aus der Glasflasche und genieße endlich wieder den Duft nicht entrahmter Milch und deren samtigen Abgang auf der Zunge:
Großgezogen werden wir drei Jungs mit der Milch unserer Bergmannskühe nämlich mit Ziegenmilch. Nur zum Backen, sowie vor Fest- und Feiertagen wird Butter, Sahne oder Frischmilch aus der Butsch benötigt. Das Wort Butsch hat für uns zweierlei Bedeutung. Einmal wird die örtliche Molkereisammelstelle für die von den Bauern des Dorfes angelieferte Milch so bezeichnet. Sie befindet sich sinnigerweise neben der ortsansässigen Brauerei. Zu späteren Zeiten wird die Butsch noch zu anderen Zwecken genutzt. Zu dieser Zeit sind elektrische Haushaltskühltruhen noch nicht in Mode gekommen. Daher ist es eine große Erleichterung, als die Butsch neben der bestehenden Milchkühlanlage noch eine Großkühlanlage anbietet mit, auf den unterschiedlichen Bedarf abgestimmten, abschließbaren Gefrierfächer Bis dahin werden die aus den üblichen Hausschlachtungen anfallenden Fleisch- und Wurstportionen ebenso wie das Gemüse aus dem Garten auf altbekannte Art haltbar gemacht. In Lake einlegen sowie Räuchern verlängern bei Fleischprodukten die Haltbarkeit. Einwecken gilt für Fleisch und Gemüse, in Sand Einlegen bei verschiedenen Wurzeln und einem Gärprozess aussetzen bei Sauerkraut und Rotkohl als übliche Konservierungsmethode. Mit dem Tiefgefrieren eröffnen sich neue Möglichkeiten, die zum einen viel Zeit ersparen und zum anderen zu ungewohnter Bereicherung des Speisezettels beitragen.
Steht ein wie auch immer begründetes Fest oder ein Besuch ins Haus wird einer der Buben mit fest umrissenem Auftrag zur Butsch geschickt. So kommt es, dass meine Patentante Anna, im Frühsommer zu Besuch gekommen, mit einem Kirschkuchen bewirtet werden soll. Mein Bruder darf den Kuchenbelag vom Kirschbaum neben dem Haus pflücken, mein Cousin derweil den Hühnern die Eier für den Teig aus dem Nest stibitzen und ich werde mit der kleinen Milchkanne zur Butsch abkommandiert, um Sahne für den Kuchen einzuholen. Von vielen Gängen zur Butsch mit meinen Hausgenossen ist mir kleinen Wicht in Erinnerung, dass diese, sobald sie mit der halbvollen Milchkanne die Stufen zur Kirche heraufsteigen immer ein gewagtes Kunststück vollbringen. Sie nehmen den Deckel von der Kanne und schwingen die Kanne in Kreisen bis über den Kopf. Dabei darf kein Tropfen der kostbaren Sahne verloren gehen. Dies muss ich, zum ersten Male alleine zu dieser Aufgabe ausgeschickt natürlich auch vollziehen. Jeder kann sich ausmalen, was nun geschieht. Die Kanne wird kräftig geschwungen, doch, oh Schreck, die Sahne ergießt sich bis auf einen kümmerlichen Rest auf das Haupt des übermütigen Wichtes. Die Verkäuferin von Milch und Käse lacht herzlich als ich bedröppelt wiederkomme, hilft mir jedoch Hemd und Hose zu reinigen und füllt ohne weitere Bezahlung meinen Kessel erneut. Trotzdem macht mein Missgeschick danach die Runde und kommt auch meiner Großmutter zu Ohren. Sie tröstet mich mit der Bemerkung, dass Gleiches oder Ähnliches wohl allen übermütigen Buben passiert ist. Damit ist die Geschichte ausgestanden.
Die Gerätschaft zum Seihen der Milch bestehend aus Trichteraufsätzen und Sieben, die auf die große Milchkanne aufgesetzt werden, wird bei uns gleichfalls Butsch genannt. Wenn Großmutter frühmorgens das Heu für die Ziegen aus dem Bienenhaus in die Raufen im Stall verteilt, den Korb mit Anfeuerholz und einen Stapel Holzscheite für den Herd in die Waschküche geschleppt, die Hühner mit Körnerfutter versorgt, sie aus dem Stall auf die Wiese gelassen hat sowie dem Schwein sein Futter in den Trog geschüttet hat, werden die Ziegen gemolken und die Milch in der Butsch durchgeseiht. Je nachdem, ob die Milch zum frühmorgendlichen Kindergetränk oder zur Herstellung von Frischkäse bestimmt ist, werden der Vorgang des Durchseihens und die Verwendung von Trichtern, Sieben und Seihtüchern entsprechend variiert. Zum Teil wird auch der Rahm mit einer Handzentrifuge abgesondert und für die Herstellung eines Hartkäses beiseite gestellt. Die Molke wird im Winter für das Schweinefutter verwendet, im Sommer wird sie gekühlt mit Fruchtsirup oder Kräutern zu einem erfrischenden Getränk für Jung und Alt. Großmutters Handkäse aus Ziegenmilch in der Art eines Harzer Rollers ist in der ganzen Nachbarschaft wegen seines würzigen Geschmacks berühmt. Neben Kümmel fügt Großmutter nach einer streng geheimen Rezeptur noch getrocknete Kräuter und grob gemahlene Gewürze zu der in Stangen gerollten, in feuchtes Nesseltuch eingeschlagenen Masse hinzu. Diese ruht danach auf einem Kellerbord ihrer Reife und dem späteren Verzehr entgegen.
An spätsommerlichen Sonntagnachmittagen, wenn die Nachbarschaft sich auf der Wiese neben dem Haus unter dem großen Kirschbaum einfand, gab es in den Zeiten, in denen die Zwetschgen schon alle im Kuchen verbacken oder zu Marmelade verarbeitet waren, Großmutters berühmten Handkäse mit oder ohne geschnittene Zwiebeln, aber immer mit frischem dunklem Butterbrot und dazu Apfelsaft für uns Kinder und eine Flasche Bier aus der nahe gelegenen Brauerei für die Erwachsenen. Diese Art zeremonieller Freiluftbetätigung hat mich ein Leben lang begleitet, auch wenn es sehr unterschiedliche Varianten ein und desselben Themas waren.
Jahre später sitze ich an einem lauen Sommertag im Freundeskreis im Vordertaunus unter dem Blätterdach einer alten, mächtigen Kastanie im Garten einer Straußwirtschaft, genieße einen sauer gespritzten kühlen Äppelwoi und dazu den für diesen Landstrich typischen Handkäs mit Musik. Zuerst wird auf dem Hackbrett eine Dosis Kümmel mit Curry- und Paprikapulver sowie kleinen Scheiben von Frühlingszwiebeln, einem Zweig Petersilie und Schnittlauch klein gehackt. Darin werden Scheiben reifer Harzer Roller gewälzt, die danach in eine Marinade aus Essig und Öl, möglicherweise auch mit einem Spritzer Sojasoße oder Maggi wandern, gleichwie die Würfel einer milden Zwiebel, um dort abgedeckt auf die innige Verschmelzung aller Zutaten und den späteren Verzehr mit gebuttertem, körnerangereichertem dunklen Bauerbrot zu warten.
In meiner Jugend bin ich einmal auf einer sommerlichen Treckingtour im Nordwesten Frankreichs gelandet. Aus meiner saarländischen Heimat war mir der Ziegencamembert unter dem Markennamen „la vache qui rit“ oder zu gut deutsch „ die lachende Ziege“ ein Begriff. Nun sitze ich an einem Abend mit Trampgenossen unter Apfelbäumen auf einer Wiese am Straßenrand, vor uns auf meiner Schlafdecke einige Stangen Weißbrot und den besagten Ziegenkäse und aus der Flasche, die im Kreis herum gereicht wird zwischen Happen von Brot mit Käse einen kräftigen Schluck Cidre nehmend. Käse und Cidre stammt vom nahe gelegenen Bauernhof. Der Sohn des alten Bauern ließ es sich nicht nehmen an der abendlichen Diskussionsrunde dieser bunt zusammen gewürfelten Schar von drei Franzosen, zwei Niederländerinnen, einem Belgier, einer rotschöpfigen Irin und mir als Deutschsaarländer teilzunehmen. Als Aufnahmegebühr in die Runde hat er drei Liter Cidre in einer Korbflasche mitgebracht. Während die Sonne langsam in den Atlantik sinkt, sitzt die Runde am entfachten Feuer bei Cidre und Käse noch lange zusammen und parliert in allen Sprachen und teils auch mit Händen und Gesten über Zeitläufte und die ganze Welt.
Mit zwei Staatsanwälten und einem Kollegen bin ich zum ersten Male in Berlin. Obwohl die Frühlingsabende noch kühl sind, haben wir uns in einer sonnenbeschienen Ecke eines Biergartens niedergelassen. An diesem Abend leben wir eine Berliner Variante der Freiluftbeköstigung. Käse ist dabei allerdings nicht vorgesehen. Dafür ist die Auswahl an Fleisch und Wurst groß. Der eine bevorzugt die Schweinshaxe mit Sauerkraut und Kartoffeln, hierzu eine klaren doppelten Schnaps, der andere die Currywurst mit Pommes und eine Molle, der dritte eine Berliner Schlachtplatte mit frischer Blut und Leberwurst, dazu Graubrot und ein brandenburgisches Dunkelbier, der vierte ein halbes Hähnchen mit Backkartoffeln und ein Berliner Kindl. So geht dieser erste Berlintag unter immer mehr ins private abgleitende Gespräche seinem satten Ende entgegen.
Mit Ilse bin ich im Herbst zu Besuch bei Ihrem Enkel in München. Am Abend erklärt ihr Schwiegersohn lapidar, die Tageszeit sei leider für eine Brotzeit mit Weißwürstl nicht mehr passend und schlägt den Besuch eines nahe gelegenen Biergartens vor. Wir sitzen auf einer Holzbank an blauweiß kariert eingedecktem Tisch unter knorrigen Platanen und lassen uns die Bayerische Variante der Freiluftverköstigung munden. Zu frisch gebackenem Leberkäs mit süßem Senf gibt es je nach Gusto eine Semmel oder eine Laugenbrezn, dazu ein spritziges Weißbier. Ich stelle fest: auch so kann man einen langen Tag gemütlich und in guter Runde ausklingen lassen.
Unterwegs in einen Pyrenäenurlaub haben wir zur Zwischenübernachtung in Beaune haltgemacht. Das Städtchen kenne ich noch aus einem Jugendtrip. Spät, als die Sonne schon untergegangen ist, sitzen wir an einem der kleinen Bistrotische, umgeben von Einheimischen, die den Feierabend auf die französische Art bei einem demi litre Vin rouge und einem kleinen Imbiss einläuten. Ilse hat sich zu dem Roten eine Platte mit Kräuterhartkäse bestellt, ich selbst bevorzuge den Camembert. Dazu gibt es wie üblich Weißbrot. Wir trinken noch ein Glas und noch ein Glas, probieren diesen und jenen Rotwein aus. In der Zwischenzeit sind die Touristen wohl alle in ihren Hotelbetten gestrandet. Erst als die Franzosen einsilbig geworden nach Hause streben, schlendern wir langsam und etwas weinselig auch unserer Bettenburg zu.
Südlich von Neapel, da vor langer Zeit die Griechen ihre ersten Kolonien auf dem italienischen Festland aufbauten, wovon heute noch eine Reihe imposanter Tempelruinen zeugt, lassen wir uns dieses Mal an einem alten Bauernhof nieder, wo wir zwischen alten Olivenbäumen mit einem Teller Mozarella di buffalo mit sehr viel frischem Basilikum und wirklich sonnengereiften Tomaten verwöhnt werden. Das dazu gereichte Brot ist, so wie es schmeckt, von der Wirtin selbst gebacken und der Rotwein kann seine süditalienische Heimat nicht verleugnen. Zum würdigen Abschluss dieser Freiluftsession bekomme ich einen Espresso und Ilse einen Zitronenlikör spendiert.