Seitdem Bokolic eine eigene Bude hat, ist er immer unterwegs. Es ist Spätherbst geworden. Kein einziger Sonnenstrahl dringt mehr in sein muffiges Kellergelass. Bokolic ist von Kind an gewohnt, gegen sechs Uhr in der Frühe an Werktagen spätestens aufzustehen. So ist der Frühaufsteher bereits kurz nach sechs Uhr unten in der Stadt. Früher hat er als Pendler jeden Morgen seinen Kaffee im ersten Stock des Eiscafes beim Italiener in der Reichsstraße getrunken. Jetzt ist ihm dieser Weg zu weit. Auch hat sich seine Clique mehr in Richtung der neu gebauten Arkaden zur Saar hin orientiert. Das dort gelegene Eiscafe ist jedoch zu so früher Stunde noch geschlossen. So sucht Bokolic zur Einnahme des Frühstücks einen neuen gastlichen Ort. Alteingesessen nennt man wohl Cafes und Gasthäuser, wenn nicht einmal mehr Stammgäste wissen, wie lange sie die Leistungen dieser Institutionen schon in Anspruch nehmen. Alteingesessen und in Familienbesitz ist das Cafe, dass Bokolic zur künftigen Einnahme seines Frühstücks ausgewählt hat. Morgens um kurz vor sechs schließt die Frau des Besitzers, der sich in der Backstube austoben darf, die breite gläserne Eingangstür auf. Sophie, die jüngste von zwei Töchtern, ihrerseits etwas älter als Bokolic, deckt derweil die vordersten Tische ein, die zu dieser Stunde ausschließlich von früh aufstehenden Stammgästen besetzt werden. Der erste Tisch auf der linken Seite ist unausgesprochen, jedoch von allen Gästen respektiert, der „Personaltisch“. Nachdem Sophie die beiden Tischreihen bis zur Wand mit den Türen zum „Privaten“ und der „Backstube“ mit Decken, Blumenvasen mit stets frischen Blumen, Aschenbecher und Karte versehen hat, holt sie sich vom Tresen ein Frühstücksgedeck, ein Kännchen Kaffee und die Tageszeitung und lässt sich an besagtem Personaltisch nieder, auf die ersten Gäste wartend, um diese dann zu bedienen. Ihre Mutter ist in der Zwischenzeit mit dem Befüllen der Kaffeemaschine, des Teesamowars und der Sahnekännchen beschäftigt, während eine Aushilfe Brötchen und Frühstücksteile aus der Backstube nach vorne bringt, um danach in stets gleich bleibender Reihenfolge hinter dem Tresen Brötchen zu halbieren und mit frischem Salat, Käse, Wurst Schinken oder Eiern zu belegen. Nach dem siebten Morgen ist es Bokolic gelungen, ohne größeren Protest von Sophie am Personaltisch einen Platz zu ergattern. Sophie hat wohl imponiert, dass der junge Bokolic, mit der Tageszeitung unterm Arm, bereits am zweiten Tag ihr beim Arrangieren der Stühle und dem Eindecken der Tische hilft. Vielleicht ist auch die beharrlich gleich bleibende Bestellung daran schuld, die am dritten Morgen schon zu ihrer Frage: „Wie immer?“ mit seiner Antwort: „Ja danke, wie immer“, führt. Ein Ei im Glas, ein dunkles Brötchen, ein helles Brötchen und etwas Honig und Butter sowie ein Kännchen Kaffe, dieses Frühstück ist für Bokolics finanzielle Verhältnisse schon fast verschwenderisch. Da er aber den ganzen langen Tag nichts mehr zu sich nimmt, scheint es ihm angemessen und vertretbar. Nach zwei Wochen sind die meisten Stammgäste, wie auch Sophie mit Bokolic per Du. Sophies Mutter sieht dies nicht ganz so gerne. Aber sie ist damit einverstanden, denn in der Zwischenzeit hat sich die Arbeitsteilung in der Frühe etwas verschoben. Die Mutter werkelt weiter hinter dem Tresen an Kaffeemaschine, Brot- und Kuchenbüffet. Sophie rückt Stühle und deckt die Tische links des breiten Mittelganges an der Seite zum lang gezogenen Tresen ein, Bokolic rückt Stühle und deckt die Tische rechts des breiten Mittelganges zur Bildergalerie zu. Es hat sich ganz langsam so ergeben, ohne viele Worte, ab und zu ein zustimmendes Nicken und ein Lächeln von Sophie haben genügt. Das Frühstück nimmt Bokolic nun mit Sophie meist schon ein, wenn die breite Eingangstür noch verschlossen ist. Er benutzt nun den Personaleingang durch die Backstube. Danach wird gemeinsam eingedeckt. Dann liest Bokolic seine Tageszeitung, während Sophie ihm ein zweites Kännchen mit Kaffee an seinen Platz am Personaltisch stellt. Zahlen braucht Bokolic schon lange nicht mehr. Selbst die zu Anfang beim Anblick des jungen Mannes an der Seite ihrer Tochter sehr bekümmert dreinblickende Mutter erscheint inzwischen erst gegen halb acht in der Frühe, da Bokolic es übernommen hat die blinkenden Maschinen zu warten und mit Kaffee, Tee und Sahne zu versorgen. So wirken nun Sophie und Bokolic Hand in Hand vor sich hin, ab und zu wechselt ein Scherz oder ein Blick von einem zum anderen, selten und mehr zufällig eine flüchtige Berührung im Vorübergehen. Sophie ist ähnlich wie ihre Mutter, robust gebaut, offen und natürlich mit strohblonden langen hochgesteckten Haaren, grauen Augen und einem silberhellen Lachen. Wenn Bokolic kurz vor acht Uhr am Morgen seine Zeitung zusammenfaltet, sein Gedeck hinter dem Tresen abstellt, dann gibt ihm Sophie einen leichten Klaps auf seinen Rücken oder knufft ihn kameradschaftlich in die Seite: „Bis dann denn“. „Ja bis morgen früh“, antwortet Bokolic und kneift sie seinerseits an einer Stelle, die Sophie immer leicht erröten lässt. Nach einiger Zeit geht Sophie an freien Nachmittagen und Abenden mit Bokolic an der Saar spazieren, ab und an auch ins Kino. Dort im Dunkeln tauschen sie auf den hintersten Logenplätzen kleine harmlose Zärtlichkeiten aus. Mehr gestattet Sophie nicht. Im Übrigen bleibt es bei dem morgendlichen Hand in Hand arbeiten, wie bei zwei eingespielten Eheleuten. Das kameradschaftliche Verhältnis zwischen den Beiden ändert sich erst, als die Clique um Bokolics Freund Stephan den Weg in sein neues Stammcafe findet. Stephan ist wie Napoleon, klein gebaut, immer etwas theatralisch und dabei sehr auf Wirkung bedacht. Er umgibt sich gerne mit einem Hofstaat von Bewunderern, der zum Leidwesen seiner „festen Freundin“ überwiegend aus jüngeren Mädchen besteht, die Stephan bei deren Eiscafebesuchen nach der Schule an sich zieht. Die Clique besucht das Cafe nie früh am Morgen, wenn Bokolic und Sophie ihre gemeinsamen zwei Morgenstunden miteinander teilen. Meist taucht die Clique erst in den späten Nachmittagstunden auf, wenn die Bewunderinnen von Stephan ihre Hausaufgaben erledigt haben und sich von zuhause zu ihren Freundinnen verkrümeln dürfen. Zu dieser Zeit ist Sophie mit ihrer Frühschicht fertig, denn am Nachmittag übernimmt ihre ältere Schwester um zwei Uhr ihre Aufgaben. Sophie sitzt trotzdem noch am Personaltisch, ruht sich aus und wartet, ob Bokolic nach Feierabend noch auf einen Plausch vorbeikommt. Die Clique hat sich einen Tisch im hinteren Teil des Cafes nahe der Musikbox ausgesucht. Seit Stephan im Cafe verkehrt, kommt Bokolic häufiger nach Feierabend noch vorbei, um dann am Abend meist mit der Clique aufzubrechen und mit Stephan zu verschwinden. Wenn dann Bokolic erscheint, sieht in Sophie erwartungsvoll an und danach meist betrübt nach, wenn er nach zwei kurzen belanglosen Sätzen zu der Clique in der Ecke verschwindet. Sophie wird in der nächsten Zeit immer blasser und stiller. Keine Scherze fliegen mehr am Morgen hin und her, kein Lächeln oder glockenhelles Lachen, ja sie vermeidet auch jede Berührung und jedes überflüssige Wort. Eines Morgens, als Bokolic wie gewohnt durch den Seiteneingang und die Backstube das Cafe betritt, steht die Mutter am Tresen und macht sich an seiner Kaffeemaschine zu schaffen. Sophies ältere Schwester ist dabei schon die Tische an seiner Seite einzudecken. Als er zum Personaltisch kommt, steht dort ein großes handgemaltes Schild auf dem geschrieben steht: „Reserviert für Angestellte“. Auf die Frage nach Sophie, antwortet die Mutter nur: „Ich weiß nicht, was Sie Sophie angeht, junger Mann. Im Übrigen für Gäste öffnen wir erst in einer Viertelstunde“. Bokolic versteht und sucht seitdem wieder nach einem Frühstückscafe. Tage später trifft er Sophie in der Stadt am Arm eines nicht mehr ganz so jungen Mannes. Sie ignoriert selbst seinen freundlichen Gruß. Bokolic selbst hat danach das Cafe nie mehr betreten.