Es ist das Jahr 1960, in dem die Bundesgartenschau nach Saarbrücken kommt. Die Stadt hat nicht allzu viel von ihrem morbiden Nachkriegscharme verloren. Am Bahnhofsvorplatz sitzen die Normalbürger auf der Terrasse des Restaurants „Holzkopp“, dessen Flachbau wie eine Notbaracke aus der Nachkriegszeit aussieht. Gegenüber, auf der anderen Straßenecke, steht ein mehrstöckiges Bürgerhaus, in dessen unterer Etage eine Absackerkneipe für deren mehr oder weniger heruntergekommene Klientel etabliert ist. Diese ist immer wieder Adresse für Einsätze der kasernierten Polizisten, die vom Volksmund nach ihren im Saarland eingeführten Uniformen als „blau eingewickelte Abführbonbons“ bezeichnet werden. Am rechten Saar Ufer sind die Kriegslücken weitgehend beseitigt. Beiderseits der Straße, die parallel zur Saar verläuft, sind die mehrstöckigen Fronten der Kaufhäuser vom architektonischen Einheitsbrei der Nachkriegszweckbauten geprägt. Lediglich die Saaruferpromenade zeigt ein ansprechend modernes Gesicht und lädt an schönen Sommertagen zum Bummeln und Verweilen ein. Etwas außerhalb dieses kleinstädtischen Trubels ist die Bundesgartenschau in einem grünen Tal unmittelbar im Grenzgebiet zu Frankreich entstanden. Das Gelände, das in den Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den feindlichen Brüdern Frankreich und Deutschland hart umkämpft war, zeigt nach seiner Umgestaltung zum Vorzeigegarten ein friedliches Gesicht, vom Gemetzel der Völkerschlachten fast unberührt. Nur die Gedenktafeln und Grabsteine erinnern als steinerne Zeugen an den vielfältigen Tod an den Höhen des Tales. Ich bin an diesem Wochenende von meinem Freund versetzt worden. Nach Hause will er nicht fahren. Somit hab ich Zeit und Muße mich endlich auf der Gartenschau umzusehen. Es ist ein sonniger, warmer Frühsommertag. Der erste Ansturm der Besucher ist vorbei, sodass ich in Ruhe durch die weitläufigen Anlagen schlendern kann. Am späten Nachmittag finde ich mich, wie viele der Besucher, am großen Teich ein, um die Spiele der Wasserorgel zu bewundern. Vorne auf der kleinen Bühne vor dem Wasser steht eine zierliche mädchenhaft anmutende Frau, mit schwarzen, bis zu den Hüften herabfallenden Haaren, und singt in der Art französischen Chansonetten von Liebesglück und Liebesleid. Laut hallt das „Non, je ne regerette rien“ als wiederholter Refrain über das Wasser und die Düsen der Wasserorgel lassen im Gleichklang mit den gesungenen Worten farbige Wasserkaskaden über dem See aufsteigen. Die Stimme wird leiser, immer leiser und mit dem Verstummen fallen auch die Wasserkaskaden auf dem See in sich zusammen. Danach verbeugt sich die schöne Sängerin artig und geht, nachdem der erste Applaus verklungen ist, zu den drei Musikern im Hintergrund der Bühne, die sie nach vorne an den Rand der Bühne zieht. Da der Beifall nicht enden will, wiederholt sie die letzte Strophe des Liedes mit klarer heller Stimme, ohne jede Musikbegleitung um danach endgültig von der Bühne abzugehen.
Nach meinem weiterem Rundgang über die verschlungenen Pfade der Gartenschau bis hoch zu den Spicherer Höhen ist es spät geworden, die Sonne schickt ihre letzten Strahlen in die Gipfel der Bäume, und ich sitze auf einer Bank und zähle meine Groschen um letztendlich resigniert festzustellen, dass das Geld wieder einmal weder für ein Abendessen in der „Bon Auberge“ noch für einen Trip durch die Altstadtlokale am Markt reichen dürfte.
Von unten aus dem Tal kommt ein Paar eiligen Schrittes, das sich lauthals und heftig in französischer Sprache streitet. Es handelt sich, wie ich beim Näherkommen feststellen kann, um die schöne Sängerin vom See und den Gitarristen der Band, wohl den Bandleader. An der Gabelung des Weges wirft der schwarzhaarige junge Mann der hübschen Sängerin mit verächtlicher Geste einen Packen Geldscheine vor die Füße, dreht sich um und verschwindet in Richtung des Nordausgangs Richtung Goldene Bremm. Die hübsche Sängerin bleibt schluchzend zurück und rührt sich nicht von der Stelle. Gegenüber weinenden Frauen konnte ich noch nie teilnahmslos sein, so stehe ich bedacht langsam von meiner Bank auf, gehe die wenigen Schritte auf die schluchzende Schöne zu, hebe den Packen Geldscheine auf und summe leise die Melodie des „Non je ne regrette rien“ vor mich hin. Dabei legt ich die rechte Hand ganz sanft unter das Kinn der Hübschen, die immer noch schluchzend, den Kopf gesenkt, auf den Weg starrt. Sie hebt langsam, dem Druck meiner Hand folgend, den Kopf, schaut mir tief traurig in die Augen und lässt sich dennoch von meinem Lächeln anstecken. Wenig später lacht sie laut und silberhell über das Tal.
Es ist fast dunkel geworden und der Mond scheint fahl auf die verschlungenen Pfade der Gartenschau. Unten vom See steigen Feuerwerksraketen hoch und dumpf krachen Böller. Wir schlendern Hand in Hand durch das Blütenmeer, leise in zweisprachigem Kauderwelsch miteinander über Trennungsschmerz und Liebesleid parlierend. Hin und wieder kreuzen sich unsere Blicke, versinken schließlich ineinander, und so einander zugewandt, folgt zögernd, fragend der erste Kuss. Janine ist die ältere, erfahrenere von uns. Trotzdem scheint der jungenhafte Charme die richtige Medizin für die gerade soeben erfolgte Trennung von ihrem Robert zu sein. Die Geschichte endet, wie alle dieser Geschichten. Janine und ich finden dank der Geldscheine von Robert in einer kleinen Pension in der Nähe des Bahnhofes ein Liebesnest für eine Nacht. Nach einem späten Frühstück im Holzkopp trennen sich unsere Wege wieder. Doch immer, wenn irgendwo die Stimme der Piaf aus einem offenen Fenster tönt, werde ich an diesen Abend und die Nacht mit Janine erinnert.