Familienbande

Großmutter und die Gerechtigkeit

 

Meine Großmütter mütterlicherseits hieß Katharina und war eine stattliche gottesfürchtige Frau. In meiner Erinnerung sehe ich sie heute noch vor dem großen Küchenherd. Das grausilberne Haar streng in der Mitte gescheitelt, am Hinterkopf das Haar in einem Knoten zusammengefasst, steht sie, leicht vornüber gebeugt, mit umgebundener blauer Leinenschürze, auf stämmigen Beinen vor der Feuertür. Die Glut aus dem offenen Ofenloch lässt ihre vollen Bäckchen wie erntereife Äpfel rot aufleuchten. Mit ruhiger, bedachter Hand ordnet sie mit dem Schürhaken die Glut und schiebt dann eins nach dem anderen neue Holzscheite nach. Dann schließt sie mit resoluter Hand das Feuertürchen, richtet sich mit eher nach Befriedigung als nach Schmerz klingendem Seufzer wieder kerzengerade auf, dreht sich zum Küchentisch um, an den sie mit zwei kurzen Schritten herantritt und nimmt die zuvor unterbrochene Arbeit des Teigrührens wieder auf. Das ruhige aber stete Wirken in Küche und Keller, Wiese und Garten, wie auch im Stall war zu ihrer zweiten Gewohnheit geworden. Als ihre erste und liebste Gewohnheit möchte ich ihr Morgen- und Abendgebet sowie das Studieren der täglichen Losung und Bibelzitate von den Blättern eines Abreißkalenders bezeichnen, der in der Küche aufgehängt, jedes Jahr in seinem Kopfteil die Darstellung der betenden Hände von Dürer aufwies. Während Großmutter den lieben langen Tag für uns Kinder, unsere bohrenden Fragen und ausgefallenen Wünsche ansprechbar war, wurde sie spät abends in ihrer liebsten Beschäftigung nur ungern gestört. Für unsere Großmutter galt im übertragenen Sinne der Satz: „Ein Mann, ein Wort“. Öfter als ihr lieb war, musste sie sehnsüchtig vorgetragenen Wünsche abschlägig bescheiden, sei es wegen der begrenzten Zeit, die ihr eigenes Tagwerk ihr ließ, sei es wegen fehlender finanzieller und anderer Möglichkeiten. Immer jedoch hat sie dies uns Kindern mit ruhigen verständlichen Worten erklärt, sodass wir uns nie zurückgesetzt oder gar verraten fühlten. Da es keine erwachsenen Männer im Hause gab, und die Mütter von uns Buben oft außer Haus beschäftigt waren, hatte Großmutter, ob sie dies nun wollte oder nicht, die Rolle der bei Bedarf auch strafenden Erzieherin mit übernommen. Mehr als einmal war der überschäumende Tatendrang des Trios nur mit harter Hand zu bändigen. Nicht dass unsere Großmutter Schläge als Erziehungsmittel an sich angesehen hat. Sie meinte nur, ab und zu könnten ein paar Schläge nicht schaden und zur Erziehung der Buben zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft sogar hilfreich sein. Zwei Vorfälle dieser Art der Bestrafung sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Dies nicht, weil die Schläge so furchtbar geschmerzt hätten, sondern vielmehr, weil diese auch und insbesondere den ausgeprägten Gerechtigkeits-Sinn meiner Großmutter belegen. Günter, mein Cousin und der Älteste in unserem Bubentrio hatte sich auf der Kirmes ein Los gekauft und prompt gewonnen. Doch oh Schreck, der Gewinn bestand keinesfalls aus einem begehrten Spielzeug oder gar einem Fußball oder dergleichen. Gewonnen hatte Günter eine „Klopppeitsche“ oder auch „Neunschwänzige“, so genannt nach neun Lederriemen, jeweils ellenlang, die mit Polsterernägeln rundum auf einen soliden Holzgriff genagelt waren. Günter, der sich daraufhin in einen Sklaventreiber verwandelte, konnte es nicht lassen, den beiden Cousins mit einigen Schlägen über deren nackten Arme und Beine, seine durch die Neuerwerbung zustande gekommene Überlegenheit vorzuführen. Nachdem mein Bruder und ich die blutroten Striemen der Unterdrückung und Sklaverei beklagt hatten, beschlossen wir, uns in die Obhut der Großmutter zu flüchten, weil Günter, der Tyrann, in seinem Blutrausch uns, im Falle einer Verweigerung der Unterwerfung unter seine auf die Peitsche gegründete Herrschaft, schlimme Strafen angedroht hatte. Großmutter jedoch, kaum des peitscheschwingenden Tyrannen ansichtig, entwand diesem mit beherztem Griff das Instrument seiner Machtausübung. Was nun zwangsläufig kommen musste, schien dem aufjaulenden Günter schon im Voraus klar zu sein. Mit zwei kurzen knappen Schwüngen ließ Großmutter ihrerseits die Lederriemen einmal auf die rechte und einmal auf die linke lederhosenbewehrte Hinterbacken des Übeltäters herabsausen. Dabei zitierte sie, leise vor sich hinmurmelnd: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es im Alten Testament geschrieben“, und danach, als wolle sie ihre Worte und die Schläge zwar nicht zurücknehmen, jedoch etwas abmildern: „So gehet hin und vergebet einander die Sünden, die ihr euch gegenseitig angetan, so ist es im Neuen Testament geschrieben“. Danach nahm sie uns drei Buben nacheinander in den Arm, dann alle an die Hand und schritt, nachdem sie die Peitsche im Küchenschrank weggeschlossen hatte, mit uns zum Kirmesplatz, wo sie von ihrem kärglichen Taschengeld jedem von uns eine große Portion seines Lieblingsnaschwerks kaufte. Eigentlich wäre die Geschichte hier zu Ende, hätten die drei Buben die beiden Bibelzitate der Großmutter tatsächlich verinnerlicht. So jedoch entschlossen sie sich, in der Annahme, die Peitsche sei von Großmutter für zukünftige Strafaktionen konfisziert worden, zu einer verwegenen Verzweiflungstat. In der Waschküche des Hauses liehen sich die drei Buben das Fleischerbeil aus. Dann wurde die „Neunschwänzige“ wieder zurück „stiebitzt“ und auf dem Hackklotz am Bienenhaus hauchten die Lederriemen, Stück für Stück in kleine Abschnitte zerhackt, ihre Zweckbestimmung und Brauchbarkeit aus. Zuletzt blieben die kläglichen Überreste und der Holzgriff unbeachtet am Fuße des Hackklotzes liegen. Keiner der Dreien traute sich, die Überreste des schändlichen Treibens endgültig zu beseitigen. Am nächsten Morgen wurde Großmutter beim Anfertigen von Spänen zum Anzünden des Herdes der Frevel offenbar. Nach Befragung und Feststellung der Missetäter begann Großmutter die versuchte Untergrabung ihrer Autorität auf der Stelle zu ahnden. Als brauchbaren Ersatz für die Neunschwänzige entschloss sie sich, den Handfeger zu benützen, in der richtigen Annahme, dass die Missetäter sich an diesem geheiligten und nützlichen Hausreinigungs- Instrument niemals vergreifen würden. Diesmal bekamen wir, in der Reihenfolge unseres Alters und ihren Feststellungen zur individuellen Schuld an dieser Freveltat, die Rückseite des Handfegers auf unseren Sitzflächen zu spüren. Die nachhaltige Erinnerung an diese einmalige, doppelte Strafaktion erübrigte in der Folgezeit viele handgreiflichen Strafen, da bereits die wörtliche Erinnerung daran in Verbindung mit einer kurzen Abmahnung: „Ihr wisst doch“.... mit einem Seitenblick zum neben dem Herd geparkten Handfeger... „Sonst ...“ genügend Wirkung zeigte. Günter und Herbert, die Älteren, hatten herausgefunden, dass, wenn die Großmutter eine Strafaktion gegen alle drei Buben durchzuführen hatte, der erste, den sie erwischte, sowohl an Worten, als auch an Schlägen, weitaus mehr abbekam, als die nachfolgenden Beiden. So hatten sich Günther und mein Bruder Herbert in stillschweigender Übereinkunft zur Gewohnheit gemacht, bei erkennbarem Großmuttergewitter in der Luft, mich, als den Unerfahrendsten in solchen Dingen, vorauszuschicken, um in Ruhe abzuwarten und zu horchen, ob und, wenn ja, welche Donnerschläge über mein armes kleines Haupt hernieder gingen, um danach, wenn Großmutter sich an mir weitestgehend verausgabt hatte, die letzten leisen Donnerschläge des abziehenden Gewitters über sich ergehen zu lassen. Irgendwann, als mir diese von den Beiden aufgezwungene Vorreiterrolle ganz und gar nicht mehr behagte, habe ich Großmutter auf die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit der Erstbestrafung hingewiesen. Großmutter erschrak ob ihrer mehr körperlich bedingten Schwäche, die Bestrafungen so ungerecht ausfallen ließen. Sie versprach mir, hinfort ihre Bestrafungen gerecht und angemessen auf alle Häupter ihrer Lieben zu verteilen. In der ersten Zeit nach diesem Versprechen hat sie zum gerechten Ausgleich, den von den beiden Großen vorgeschickten Kleinen zwar mächtig angeraunzt, sodass dieser aus lautem Hals die Schmerzen der Bestrafung den draußen vor der Tür aufhorchenden Schlaubergern schauerlich verkündete. Tatsächlich aber klatschte die Zeitung nicht gegen meine Pobacken, nur auf den Küchentisch, und es blieb bei eher liebevollen Klapsen auf die Wange. Traten dann nacheinander die beiden Großen auf den Plan, so teilte Großmutter ihre Kraft vortrefflich ein, sodass beide jeweils sein gerütteltes Maß an Backpfeifen und Hieben erhielten und sich über die wiedererstarkte Hand der Großmutter wehklagend wunderten. Der Zweite bekam richtig rote Ohren vom Zuhören und von den Backpfeifen. Der Dritte durfte froh sein, wenn er an diesem Abend, unter Schmerzen, überhaupt am Abendbrottisch sitzen konnte. Nachdem die Ungerechtigkeiten vorheriger Strafaktionen ausreichend ausgeglichen erschienen, hat die Großmutter das System der „Strafenden Gerechtigkeit“ ganz umgestellt. Danach ließ sie die Missetäter warten, bis alle zusammen in einer Reihe standen. Dann wurde nach intensiver Befragung und Schuldzuweisung mit Einverständnis des Betroffenen ein individuelles Strafmaß festgelegt. Ausflüchte und Leugnen schlugen sich immer in einer Erhöhung des Strafmaßes nieder. So nahm meine Großmutter die moderne Strafrechtspflege, die Gründe für Strafmilderung und -erhöhung im Strafrecht widerspiegelt, in ihrer Praxis vorweg, ohne jemals die rechtstheoretischen Erörterungen hierzu studiert zu haben.

 

Tante Anna und der Schinderhannes

 

 

Tante Anna war eine meiner beiden Patentanten und die jüngste Schwester meiner Großmutter. Sie war wie diese, mit zwei Kindern gesegnet, recht früh Witwe geworden. Sie wohnte in einer kleinen Ortschaft, zwei Stunden Fußweg von Onkel Karl entfernt, in einem Einfamilienhäuschen, das in einen aufgelassenen, unmittelbar an der Straße liegenden Steinbruch hineingebaut war. So stand das Haus mit der Breitseite zur Straße hin, rechts, links, wie dahinter von hohen naturgewachsenen Felswänden in geringem Abstand begrenzt. Hinter dem Haus war noch ein Schuppen angebaut. Das Untergeschoss des Hauses diente als Waschküche, Stall und Keller, da der Fels, auf den das Haus gebaut war, keine Gründung mit Unterkellerung zugelassen hatte. Vorne führte eine steile, steinerne Treppe zur Haustür, über die man die Wohnräume im ersten Geschoss erreichte. Über eine hölzerne Innenstiege stieg man zu den Schlafräumen im Dachgeschoss. Zu den Räumen im Untergeschoss konnte man entweder über die hölzerne Stiege unterhalb der Treppe zum Dachgeschoss oder durch eine seitliche Nebeneingangstür gelangen. Beide Kinder von Tante Anna waren eine halbe Generation älter als ich selbst. Sie waren also durchaus als Aufsicht geeignet, wenn das kleine Patenkind von Tante Anna zu Besuch bei seiner Patentante weilte. Tante Anna, war, wie meine Großmutter, eine sehr resolute Frau. Daneben hatte sie jedoch einen Wesenszug, der sie zu der vor allen Anderen bevorzugten Tante machte. Sie hatte nämlich ein natürliches Talent zum Dichten und Erzählen. Am liebsten war es mir, wenn sie abends, wie eine Figur aus Grimms Märchen, in ihrem langen dunklen Rock an der Spindel oder dem Spinnrad saß, die Schafwolle zu Fäden und Knäueln zusammendrehend, uns Kindern Geschichten aus ihrer alten Heimat, der Winterhauch und von Schinderhannes, dem wilden Räuber des Hunsrücks, erzählte oder selbstverfasste Reime auf tatsächliche wie erfundene Begebenheiten aus ihrem Umfeld rezitierte. So wuchsen in unserer Phantasie die Häuser und Gehöfte ihrer Jugendzeit, die Tiere und Menschen darin, wie auch deren Denken und Fühlen: der elterliche Hof in Ehlenbach mit dem tief herabgezogenen Dach, der Scheune und den Stallungen; die „Große“, ihre Großmutter, wie sie den Sauerteig für die Brote ansetzte und, nachdem die Brote im gemauerten Ofen gebacken waren, die einfachen aber köstlichen Flammkuchen oder Zwetschgenkuchen zur Freude der Kinder, als einzigen Luxus für die Wochenenden, in den Backofen schob; der Großvater, wie er mit den Säcken voller Getreide, die Kindern obenauf, mit dem großen Wagen und dem Pferdegespann zur Mühle fuhr; der Vater, wie er zu Weihnachten, fast die ganze Familie eingemummelt, auf dem von den gleichen Pferden gezogenen Schlitten zur Weihnachtsmette in der Dorfkirche fuhr; die Kinder, wie sie barfuss zur Schule trabten, und der alte strenge Dorflehrer, der mehr als notwendig vom Rohrstock Gebrauch machte; der Schneider, der Kesselflicker und der Scherenschleifer, die, von Dorf zu Dorf und Hof zu Hof ziehend, ihrem Handwerk und oft auch sonstigem obskuren Nebenerwerb nachgingen, wie Handlesen, Vieh und Menschen besprechen und dergleichen; die langen wöchentlichen Wege der Frauen, die sie bei Wind und Wetter, über die umliegenden waldbedeckten sturmdurchtosten Hänge, zu den Märkten nach Idar-Oberstein oder Kirn führten. Auf dem Kopfe trugen die Mädchen und Frauen Butter und Eier in Körben, wie auch das mit Stickereien verzierte Linnen und die schönen selbstgefertigten Bänder und Decken, um es auf den Märkten an die Frauen der Beamten, Kaufleute, Edelsteinschleifer und Viehhändler zu verkaufen. Dazwischen aber kamen immer wieder Geschichten von Schinderhannes, als dem Robin Hood des Hunsrücks, dem Manne, der den reichen Pfeffer- und Geldsäcken die Geldkatzen und Hosen ausgezogen hatte, um sie mit den Armen und Entrechteten zu teilen. Teilweise recht derbe Späße hatte dieser Räuber und Wegelagerer mit seinen Opfern getrieben. In den Ohren von uns Kindern wurden sogar die Missetaten zu wahren Heldentaten, und oft genug wurden am nächsten Tag diese Geschichten hinter dem Haus mit den Kindern aus der Nachbarschaft als Spiele von Räubern und Gendarmen an der steilen Felswand und in dem Dunkel des Schuppens und Kellers, mit „Piff und Paff“ und „Ho und Hü“, so naturgetreu nachgespielt, dass der eine oder andere auch schon mal eine größere Blessur davontrug, die dann von Tante Anna mit warmer Hand oder mit Salbe und Pflaster in ihrem „Feldlazarett“ geheilt wurde. Meine Mutter jedoch merkte bei manchen der abenteuerlichen Geschichten, die ich ihr ab und zu bis ins hohe Alter immer wieder auftischte, dazu an: „Die Fabulierkunst hat er wohl von Tante Anna, die Phantasie von Onkel Karl geerbt“.

 

Onkel Karl und die Winterhauch

 

Onkel Karl, war eigentlich der Onkel meiner Mutter, der jüngste Bruder meiner Großmutter. Er wohnte in einem kleinen Ort zwischen Nahe und Glan, im ersten Stock eines Zweifamilienhauses zur Miete. Das Haus stand an der Kreuzung zweier Hauptstraßen, von denen die eine die Verbindung zwischen den beiden Flusstälern der Nahe und des Glan herstellte. Die andere Straße führte an dem Bach entlang, durchschnitt die kleine Ortschaft und endete irgendwo im Nirgendwo, weil die Zäune des nahen Truppenübungsplatzes ihren weiteren Verlauf abrupt unterbrachen. Tante Emmi, Onkel Karls Frau, war kinderlos geblieben und besorgte den kleinen Haushalt, rührend um Onkel Karls Gesundheit bemüht. Wenn einer von uns Buben in den Ferien zu Besuch war, dann überschüttete Tante Emmi den Buben mit aller Liebe und Zärtlichkeit, die sie, mangels eigener Kinder, das ganze Jahr über angespart hatte. Im nächst-gelegenen Weiler wohnte noch Tante Anna, die jüngste Schwester meiner Großmutter mit ihren beiden Kindern. Die ursprüngliche Heimat der Sippe meiner Großmutter war ein Weiler namens Ehlenbach, in der Winterhauch gelegen, einem Landstrich, der wegen seiner kargen Böden und seines rauen Klimas diese Bezeichnung zu Recht erhalten hatte. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde dieser Weiler bei der Ausweitung des Truppenübungsplatzes Baumholder, wie noch ein Dutzend weiterer Dörfer, geräumt, die Bewohner umgesiedelt und in alle Winde zerstreut. Onkel Karl und Tante Anna, die beiden jüngsten Geschwister, waren die einzigen aus der großen Kinderschar, die in unmittelbarer Nähe ihrer alten Heimat geblieben waren. Tante Anna, weil sie zusammen mit ihrem Mann in dessen Heimatdorf ein kleines Häuschen gebaut hatte, Onkel Karl, weil er erdverbunden von seiner Heimat nicht lassen wollte oder konnte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Übungsplatz von den Amerikanern mit Beschlag belegt, die gesamte Gegend bis hinüber nach Kaiserslautern in der Folge als Militärlager für den kalten Krieg aufgerüstet. Onkel Karl war in den Beruf des Straßenrevisors oder Straßengängers gekommen, zuständig für die Überwachung des Straßenzustandes in einem großen Revier, in dessen Mittelpunkt sein Wohnort lag, in dem Wald, Feld und Wiesen sich gleichmäßig entlang den Straßen aufreihten. Er war von Jugend an naturverbunden, ein Jäger ohne Jagdschein und ohne Jagdrevier, ein Sammler von Beeren, Blüten, Knollen, Kräutern und Pilzen. Sein Beruf kam ihm bei diesen Passionen mehr als entgegen. In seiner Freizeit durchstreifte er mit und ohne Genehmigung der Militärbehörden die ihm bis in den letzten Winkel vertrauten Gemarkungen der aufgelassenen Dörfer im militärischen Sperr- und Übungsgelände. Oft brachte er, der über solche Streifzüge bekümmert dreinblickenden Tante Emmi, neben Pflanzen und Wurzeln, die sie liebevoll sortierte, trocknete und zu Kompressen, Aufgussbeuteln, Tinkturen, Salben und Konfitüren verarbeitete, auch noch das eine oder andere, bereits ausgenommene und zerlegte Stück Wild mit nach Hause. Trotz der Kümmernis über die ungeklärte und zweifelhafte Herkunft, verarbeitete die gelernte Hauswirtschafterin und Köchin die toten Tierchen zu allem, was Gaumen und Magen in höchste Verzückung versetzen konnte. Bei Tante Emmi durfte ich in Keller und Küche zuschauen und, soweit die kleinen Hände das zuließen, tatkräftig mithelfen. So lernte ich Spicken und Beizen, Sautieren und Würzen, Braten und Schmoren, Tätigkeiten, die mir auch heute noch ausgesprochen große Freude bereiten. Wenn die Arbeit im Hause erledigt war, und ich selbst keine Lust hatte, im nahen Wiesental zu spielen, saß ich bis zur Rückkehr von Onkel Karl am Küchenfenster. Durch sein Fernglas blickte ich auf die Straße, auf der die Konvois der Militärwagen hin und her fuhren. Wenn ich Glück hatte, sprang mir am nahen Waldrand ein Reh vor die Linse oder die Karnickel spielten auf der sandigen Wiese neben dem Haus Hasenschule. Immer wieder war ich fasziniert von der Möglichkeit dieses Instruments auch die weit entfernten Dinge unmittelbar vor die Augen zu zaubern, wo man glaubte, sie mit Händen greifen zu können. Am liebsten waren mir jedoch die Stunden, in denen Onkel Karl Rucksack und Wanderstab von der Garderobe aus Hirschgeweihen herunternahm, ihn schulterte und, den Knotenstock zur Hand nehmend, dem kleinen Rauhaardackel und auch mir mit einem Doppelpfiff zu verstehen gab, dass ein Abenteuerausflug in Feld und Wald bevorstand. Ich durfte mir dann das Fernglas umhängen und meinen kleinen Klappsitz zur Hand nehmen, der zugleich Spazierstock und Verteidigungswaffe gegen alles Unbekannte sein sollte. Onkel Karl hatte sich in seinem Beruf einen langsamen aber raumgreifenden Schritt angewöhnt, der es ihm ermöglichte die Augen schweifen zu lassen, ohne den Boden vor seinen Füßen aus den Augen zu verlieren. Immer war er einen Deut schneller, wenn es galt, etwas Interessantes am Wegesrand, in der Landschaft oder selbst am fernen Horizont aufzuspüren. Er lehrte mich die Natur mit allen Sinnen zu beobachten, zu riechen zu schmecken und zu fühlen. Vor meinen Kinderaugen blätterte er das unermessliche Buch der Natur auf. Dabei ließ er mich, wie selbstverständlich, meine eigenen Erfahrungen mit den Dingen machen. Nur, wenn von einem dieser zu bestaunenden Neuigkeiten eine ernsthafte Gefahr drohte, bremste er den kindlichen Entdeckungseifer und zeigte, sei es durch Demonstration, sei es durch eindringliche Schilderung, die Gefahren auf, denen wir uns aussetzen könnten, wenn wir dies wollten oder auch nicht. Spannend wurde es jedoch, wenn Onkel Karl sich in seinen Erzählungen auf das Gebiet der „Dohlewutze“ und „Dilldappesse“ begab, der Waldschrate, Wiesentrolle und Elfen, kurzum, der Fabelwesen, die nur in der kindlichen Phantasie die Welt hinter den handgreiflichen Dingen bevölkern und letztlich Onkel Karl immer nur als kindverständliche Erklärungen für all die Wunder des Kosmos dienten. In späteren Jahren habe ich in den von ihm geliebten Monatsheften manch eine populärwissenschaftliche Abhandlung zu  den Phänomenen gefunden, die Onkel Karl mir mit solchen Erzählungen anschaulich verdeutlicht hatte. Kein Wunder, dass mein erster Berufswunsch war, Förster und Jäger in Onkel Karls Revier zu werden.

 

 

Onkel Fritz und das Abendessen

 

Onkel Fritz, von uns auch der alte Fritz genannt, war der Ehemann von Tante Emma. Er wohnte mit seiner Frau, seinem Sohn, dem jungen Fritz, und seiner Schwiegertochter, der Trude in dem alten Vierseitenhof, den er gekauft hatte, als er, wie Großmutter aus der alten Heimat vertrieben, sich im Gebiet zwischen Taunus und Main eine neue Heimat suchte. Der alte Fritz war ein kleines Bäuerchen, mit roten Bäckchen, immer ein listiges Lächeln auf dem Gesicht. Er war Presbyter in der Kirchengemeinde seines neuen Heimatortes geworden, gleichzeitig war er einer der Christen, deren selbstgefällige Selbstgerechtigkeit an Scheinheiligkeit grenzt. Die Menschen in seiner Umgebung behandelte er fast wie Leibeigene. Nur gegenüber uns Kindern war er gleichbleibend freundlich. Die wichtigste Spalte in seiner Tageszeitung war die Spalte mit den Börsenkursen, danach rangierte der Wetterbericht, weil dieser die Reihenfolge der Arbeiten bestimmte und Aussichten für die zukünftige Ernte bestimmte. Denke ich an den alten Fritz so denke ich immer auch an das Abendessen. Zur Abendbrotzeit versammelte sich die Familie um den Küchentisch. Tante Emma stellte in die Mitte des großen Tisches einen Topf mit Pellkartoffeln, links und rechts daneben Teller mit Hausmacher Blut- und Leberwurst, auch Scheiben von Presskopf in der Schweinsblase geräuchert oder Schinken aus dem Rauch. Je nach Jahreszeit ergänzte eine Schüssel Salat aus dem Garten oder mit Sauerkraut aus dem Steintopf unter der Treppe auch mit Gurken oder sauer Eingemachtem den Abendbrottisch. War der Tisch gedeckt, die Familie versammelt, stieg der alte Fritz mit einem großen irdenen Krug durch eine Luke neben der Küchentür in den Weinkeller, kam mit gefülltem Krug und einer Flasche Mineralwasser wieder nach oben und füllte reihum die Gläser, wie ein höfischer Mundschenk oder Zeremonienmeister. Nach Alter und Geschlecht richtete sich der Inhalt der Gläser. Männliche Erwachsene tranken den Äppelwoi ungespritzt, ob sie dies wollten oder nicht, weibliche Erwachsene tranken den Äppelwoi mit einem leichten Schuss Mineralwasser gespritzt, Kinder bekamen ihre Anteile an Wasser und Wein jeweils altersgerecht zugemessen. Danach erst nahmen die Familienmitglieder ihre Plätze ein, in festgelegter Reihenfolge auf den ihnen zustehenden Plätzen. Das Abendessen verlief in der Regel ohne Gespräch. Wenn der alte Fritz seinen Teller zurückschob und zu seiner Zeitung griff, galt das Abendessen als beendet. Tante Emma räumte zusammen mit Trude den Tisch ab, alle anderen gingen ihren gewohnten Beschäftigungen nach, während der alte Fritz die Börsenkurse studierte.

 

Tante Emma und der Pflaumenkuchen

 Tante Emma, die älteste Schwester meiner Großmutter, war eine herzensgute Frau. Die Herzenskälte ihres Mannes glich sie immer wieder durch ihre Güte gegenüber jedermann auch gegenüber ihrem Ehemann aus. Ich kam von großer Fahrt, aus Richtung Köln kommend, an der Kreuzung des Rhein-Main Schnellweges mit der Autobahn an. Der Autofahrer, der mich mitgenommen hatte, bog in Richtung Frankfurt ab, Ich selbst wollte die Verwandtschaft in dem kleinen Ort nahe der Autobahn noch besuchen. Dies unter anderem, weil er bereits seit drei Tagen keinen gescheiten Bissen mehr zwischen die Zähne bekommen hatte und mein Geldbeutel so gähnend leer war, dass eine Glatze dagegen ein blühender Haarschopf war. Für die kurze Strecke einen Autofahrer anzuhalten, lohnte sich nicht. So machte ich mich auf Schusters Rappen auf den Weg. Nach einigen hundert Metern kam ich an einem steinernen Denkmal vorbei, das der Kreuzung der beiden Autobahnen im Volksmund den Namen gegeben hatte. Der „Wandersmann“ war eine steinerne Säule wie sie seit napoleonischer Zeit im Gedenken an glorreiche Siege als Siegessäule landauf landab in französischen, deutschen, polnischen und russischen Landen, ja sogar in Ägypten anzutreffen ist. Da es um die Mittagszeit war, die Sonne prall vom Himmel stach, suchte ich unter einer Trauerweide, die damals neben dem Denkmal stand, im Schatten ein Plätzchen zum Ausruhen. Wenige Minuten später war ich, von den Anstrengungen der Tramptour erschöpft, schon im Reich der Träume angelangt. Wach wurde ich, als sich die Sonne schon zur abendlichen Ruhe begeben wollte, von dem Singsang zweier Soldaten, die in der Uniform der Luftwaffe der Vereinigten Staaten neben einem Armeejeep vor dem Denkmal standen, und im breiten Akzent der Südstaaten, den ich bei Trips durch die Pfalz bei vielen Besatzungssoldaten kennen gelernt hatte, über die mutmaßliche Bedeutung dieser zum Himmel strebenden Säule diskutierten. Ich gedachte nach kurzem Bedenken, aus der Unkenntnis möglicherweise Nutzen ziehen zu können. So gesellte ich mich zu den Beiden, stellte mich als Beauftragter der im nahen Tal liegenden Gemeinde vor, erläuterte das Denkmal im napoleonischem Sinne und verwies darauf, dass diese kostbare Steinsäule gegen einen fairen Preis von: „sagen wir einmal fünfzig Dollar“ erworben werden könne. Ob die beiden Offiziere meinen Sprüchen Glauben schenkten, mag dahin gestellt sein. Sie griffen jedoch in ihre Taschen, zauberten Stift und Papier hervor und zahlten, nachdem ein Kaufvertrag aufgesetzt und unterschrieben war, lachend ihre fünfzig Dollar. Ich verabschiedete mich von den Beiden schleunigst und machte mich, ohne den Kopf noch einmal zu wenden, aus dem Staub. „Der Wandersmann“ steht heute noch, zwar nicht mehr genau an der alten Stelle, denn er musste einer Fahrbahnverbreiterung weichen, dafür aber an exponierterer Stelle oben am steilen Hang. Später, die Sonne war schon untergegangen, kam ich im Gehöft von Tante Emma und Onkel Fritz an. Tante Emma war todunglücklich darüber, dass der Abendbrottisch schon abgeräumt war. So schob sie mir kurzerhand den für das nahe, kommende Wochenende gebackenen Pflaumenkuchen hin, „damit ich meinen gröbsten Hunger stillen könne“. Danach begab sie sich in die Speisekammer um für den ausgehungerten Jungen noch Hausmacher Wurst Schinken und Käse aufzufahren. Nicht schlecht staunte sie, aus der Speisekammer zurückkehrend, als sie feststellen musste, dass ich den ganzen Pflaumenkuchen auf einen Sitz verputzt hatte. Ihr Staunen nahm kein Ende, als auch noch die Wurst- und Schinkenbrote in meinem Magen verschwanden. Seit diesem Abend hat Tante Emma immer dann, wenn ich zu Besuch war, doppelte Portionen an Fleisch, Wurst, Käse, Schinken und Kuchen aufgetischt. Sie konnte nämlich alles ertragen, nur nicht, dass ein Gast vom Tisch hungrig aufstehen sollte. In dieser Beziehung hielt sie sich an den Leitspruch ihrer Schwester, meiner Großmutter, der da lautete: „Besser vor Bauch net leie, als vor Hunger net schloofe kenne“ ( Besser vor Bauch nicht liegen, als vor Hunger nicht schlafen können), ein Merksatz, dem ich meine Zustimmung nie versagt habe.