Wir schreiben den siebenundzwanzigsten September 2009, 10 Tage nach meinem 68. Geburtstag. Die Bundestagswahl ist genauso ausgegangen, wie von den allwissenden Auguren der Meinungsforschungsinstitute vorausgesagt. Doch das geht mir sprichwörtlich gesagt an der Backe vorbei. Was mich wirklich bewegt ist ein ganz anderes Problem, tiefschichtiger auch möglicherweise bedeutender als eine Wahl für den Bundestag der Bundesrepublik. Es ist das Problem der verschwundenen Milchstraße. An diesem recht kühlen Herbstabend sitze ich auf unserer Terrasse im Süden von Berlin, schaue nach oben und sehe nur wenige Sterne, die sich gegen das widerspiegelnde Lichtermeer der Großstadt am Abendhimmel durchsetzen können. Das Sternenband aus meiner Jugendzeit ist jedoch nicht mehr zu erkennen. Sie ist einfach weg, spurlos verschwunden, nicht mehr zu sehen – die Milchstraße meine ich. Stattdessen schwenken ruhelos drei Lichtfinger aus Megascheinwerfern einer Show auf dem geschlossenen Flugfeld in Tempelhof von Ost nach West über den Himmel, werden von wenigen Wolken dramatisch verstärkt und es erscheint mir so, als suchten sie etwas am Himmel, vielleicht die verschwundene Milchstraße? Dabei kommt mir erst jetzt zu Bewusstsein, dass die Milchstraße nicht so von Heute auf Morgen verschwunden ist. Nein, sie wurde von Jahr zu Jahr blasser, verlor ihre vorher so klaren Konturen und, je mehr ich die ländliche Umgebung meiner Kindheit verließ, hat sie sich durch den nächtlichen Lichterglanz der Städte dann irgendwann in den letzten Jahren in Nichts aufgelöst. Keinesfalls kann ich behaupten, ich sei nicht schon vor Jahren vorgewarnt worden, ich habe diese Warnung, wie so viele andere nicht ernst genommen, einfach nicht glauben wollen. Vielleicht ist es gut sich an den Anfang dieser absonderlichen Geschichte zu erinnern, um weitere ähnliche Verluste dieser Art in Zukunft zu vermeiden.
Die Gote, so wird sie in meiner Kindheit nur von uns drei Buben genannt, kommt aus einer anderen Welt als der unsrigen und ist uns Kindern trotzdem in ihrer Art sich zu geben näher als viele unserer Nächsten. Ich liebe vor Allem ihre Art, wie sie mit mir redet. Nie weiß ich genau, ob sie überhaupt zu mir redet oder ob es nur Selbstgespräche sind, an denen sie mich einfach teilhaben lässt. Dies ist für mich an sich schon faszinierend, weil es mir wie eine Offenbarung ihrer Gedanken und Gefühle vorkommt und trotzdem irgendwie an mich persönlich gerichtet, auf mich bezogen scheint. Die Gote ist die einzige „Dame von Welt“, die wir Kinder kennen. Sie ist von wohlbeleibter Statur, immer perfekt gekleidet, hat eine Vorliebe für Bernsteinketten und Broschen sowie für Ringe mit blauen Steinen jeglicher Art. Wie sie selbst von sich sagt, stammt sie aus gutsituiertem Haus, ist gesegnet mit einem wohlhabenden, jedoch früh verstorbenen Mann der ihr eine bescheidene Villa und ein auskömmliches Einkommen sowie einen Sohn hinterlassen hat, der nach ihrer Meinung zu sehr nach seinem Vater kommt, weil er genauso eine trockene, humorlose und klein karierte Beamtenseele habe wie der Verstorbene. Wenn sie zu uns zu Besuch kommt hat sie für jeden ein passendes Geschenk, was uns Kinder natürlich am Meisten freut. Die Erwachsenen begegnen der Gote mit Hochachtung, teilweise sogar mit einer gewissen Ehrfurcht. Das liegt wohl daran, dass, wie unsere Großmutter behauptet, die Gote über „die Gabe des zweiten Gesichts“ verfügt.
Großmutter und die Gote gehören der gleichen Generation an, haben in etwa die gleiche Statur, sind aber im Erscheinungsbild unterschiedlicher, als man nicht sein kann. Während Großmutter in ihrer indigoblauen Kittelschürze immer nach Küche und Kernseife riechend, ihre bäuerliche Herkunft und die harte Arbeit, die deutlich sichtbare Spuren im Gesicht und an den Händen hinterlassen haben, nicht verleugnen kann, ist die Gote eine modisch aber nie zu modern gekleidete, stets dezent geschminkte und nach einem Hauch Lavendel oder Eau de Cologne duftende damenhafte Erscheinung. Trotzdem verstehen sich die Beiden mehr als gut, achten sich gegenseitig hoch und teilen, wenn die Gote bei uns übernachtet, sogar das Ehebett in Großmutters Zimmer. Beide haben das Schicksal der frühen Witwenschaft gemeinsam. Während die Gote jedoch in dieser Witwenschaft allzeit in finanziell gut abgesicherten Verhältnissen lebte, musste Großmutter mit einer nie zum Leben ausreichenden bescheidenen Pension sowohl das Häuschen als auch ihre beiden Kinder und später noch ihre vaterlosen Enkel hochziehen. Beiden gemein sind die Hochachtung vor der Natur und allem Lebendigen sowie eine tiefe Spiritualität, die sich jedoch entsprechend ihrer Herkunft und fast spiegelbildlich zu ihrer gesamten körperlichen Erscheinung unterschiedlich darstellt. Großmutter ist mehr dem praktischen Leben zugewandt, ihr protestantischer fast puritanischer Gottesglauben gibt ihr den unerschütterlichen Halt alltäglich die Mühen dieses Lebens zu überstehen.
Die Gote hingegen ist freigeistig, eher eine der Anhängerinnen einer Naturreligion. Heute würde sie zu den Esoterikern zählen oder einer Form des europäisch geprägten Buddhismus zuneigen. Großmutter und der Gote gemeinsam ist jedoch der Glaube an unerklärliche Kräfte, die sich bei einigen wenigen Menschen aus ihren Sippen immer wieder dokumentieren. In der Verwandtschaft meiner Großmutter mütterlicherseits manifestieren sich diese Kräfte in den okkulten Bereichen des Heilens durch „Besprechen“ von Leiden oder „Handauflegen“, die gleichzeitig mit einer keineswegs okkulten Kenntnis der Heilwirkung von natürlichen organischen und anorganischen Stoffen sowie manueller Heilbehandlungen verbunden sind. Hingegen treten bei der Gote, die zur Sippe meines Großvaters väterlicherseits gehört, wie auch bei deren Vorfahren mehr übersinnliche Kräfte in Erscheinung wie Wahrsagungen, Handlesen und Erkennen seelischer und geistiger Konflikte. Die Gote selbst hat nach der unwidersprochenen Meinung meiner Großmutter wie schon erwähnt die Gabe des „Zweiten Gesichts“ von ihrer Tante geerbt. Viele der Prophezeiungen der Gote vergesse ich, weil sie mir kleinem Jungen wie Erzählgeschichten vorkommen, andere wiederum, weil sie Dinge betreffen, die zwar tatsächlich früher oder auch sehr viel später geschehen, jedoch nicht unbedingt für mich persönlich eine größere Rolle spielen und der größere Teil weil er für mich unabänderliche Vorkommnisse darstellt, die meine Gote, wie viele andere Dinge halt vorhersieht. Zwei dieser Prophezeiungen habe ich jedoch nicht vergessen.
Wie immer im Herbst hat mich kleinen Jungen das Fieber gepackt. Die Gote sitzt an meinem Bett, kühlt meinen heißen Kopf mit einem feuchten Tuch und spricht wie immer vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu mir:„Tante Änni hat schon Recht. Der Junge ist zwar anfällig auf der Lunge, wie sein Großvater mütterlicherseits. Der ist ja am Lungenfieber früh gestorben. Aber der Junge lässt sich nicht klein kriegen, er gibt nie auf, das hat er wohl vom Großvater väterlicherseits, ein führwahr zäher Krüppel, wenn mich einer fragt. Ach Wölfchen, was soll bloß aus dir werden? Ich fürchte fast, du wirst es zeitlebens selbst nie genau wissen. Die Nornen haben dir zu viele und zudem noch widerstreitende Talente in den Becher deines Lebens getan. So wirst du immer wieder etwas Neues anfangen, ein Talent nach dem anderen ausprobieren um festzustellen, dass doch Alles allerhöchstens Mittelmaß ist und keinesfalls deinen Ansprüchen an dich selbst genügt. Du wirst immer innerlich zerrissen sein, nie mit dir selbst zufrieden. Vielleicht gelingt es dir im Alter zu deiner eigentlichen Bestimmung zu finden. Ich sehe verschwommen, dass die Erzählkunst deiner Patentante Anna sich durchsetzen wird gegen deine handwerklichen und kunsthandwerklichen Talente. Im Laufe deines Lebens wird dir gar nichts geschenkt werden und du wirst viele deiner die gegebenen Fähigkeiten unnütz vergeuden. So wie Gote mir vorausgesagt hat ist es mir wohl in meinem späteren Leben ergangen. Viel zu Vieles habe ich ausprobiert und viel zu Wenig ist mir davon gelungen. Nur die Schreibkunst mag ich heute noch betreiben, vielleicht auch hier und da ein wenig Hobbymalerei. Doch zurück zu der zweiten Prophezeiung, die mir heute am letzten Abschnitt meines Lebens viel bedeutender erscheint:
Es ist ein freundlicher, lauer Sommerabend. In den Sommerferien dürfen wir Kinder bis Einbruch der Dunkelheit draußen bleiben. Die beiden Älteren haben sich mit ihren Freunden zum Fußballspielen verabredet. Da sie den Kleinen, wie sie mich scherzhaft nennen, nicht dabei gebrauchen können, bin ich zum Bienenhaus hinaufgestiegen, sitze neben der Gote auf der Bank und schaue mit ihr den langsam auffunkelnden Sternen zu. Später, als das bleiche Mondgesicht im Osten heraufkommt hat sich Großmutter dazugesellt; allem Anschein nach um mich daran zu erinnern, dass mit Einbruch der Dunkelheit nicht nur die Hühner auf ihre Schlafstangen zu gehen haben, sondern auch die kleinen Buben unter ihre Schlafdecken kriechen sollten. Als sie jedoch den abwesenden Blick von Gote sieht, die schützend ihren Arm um mich legt, so als wolle sie ausdrücken, dass sie mich jetzt noch nicht gehen lassen könne, bleibt Großmutter still sitzen und hört dem Geraune der Gote zu. Wie so oft redet Gote, mehr mit sich selbst und doch mir zugewandt:
„Vor endlos langer Zeit hat sich Mutter Erde mit Vater Sonne vermählt. Damit ging eine dunkle finstere Erdenzeit zu Ende. Von da an kämpften Vater Sonne und Mutter Erde in einem immerwährenden Kreislauf gegen den Fürsten der Kälte und Finsternis. Im ersten Frühjahr, als sie nach langem Winter den Fürsten in den hohen Norden vertrieben hatten, wurde ihnen ein Sohn geboren. Dieser folgt seitdem seinem tagleuchtenden Vater in der dunklen Nacht nach, um diese ein wenig zu erhellen und um die von nun an beständig folgenden Jahreszeiten vorzugeben. Danach gebar Mutter Erde in jedem Frühjahr, wenn sie zusammen mit Vater Sonne und ihrem Erstgeborenen die dunkle Macht des Winters besiegt hatte, die Kinder der Erde, Pflanzen und Tiere und zuletzt auch uns Menschen. Doch den Kindern der Erde ist es nicht vergönnt ewig auf der Erde zu leben. Deshalb schickt Mutter Erde ihre toten Erdenkinder zu ihrem Erstgeborenen in den Himmel, wo sie den lebenden Erdenkindern zum Trost in der Nacht als Sterne funkeln und ihnen den Weg durch ihr Erdenleben zeigen sollen. Da aber die Sternenkinder immer noch des Trostes bedürfen gibt Mutter Erde ihnen die Milchstrasse. Die Milchstraße ist das Band, das Alles umfassend, Sonne Mond und Sterne wie auch uns Erdenkinder beschützt vor der großen tiefen Dunkelheit des unendlichen Alls.“ Die Gote nimmt beim letzten Satz die Hand von meiner Schulter und deutet nach oben zum jetzt sternenfunkelnden, nachtblauen Himmel der vom milchig weißen Band der Milchstraße gleichsam zusammengehalten wurde. Großmutter schüttelt mit einem tiefen Seufzer den Zauber der vorausgegangenen Worte ab, erhebt sich schwerfällig von der Bank und sagt: „ Dies ist wahrhaft ein gutes Gleichnis für den Lauf des Lebens. Doch ich muss jetzt ins Bett. Der Tag war lang. Bleibt nicht zu lange auf „ und zum Abschluss: „ Gote, setz dem Bub nicht zu viele Flausen in den Kopf, er hat schon genug davon“. Dann strebte sie ruhig und bedächtig dem Hause zu, dabei ab und an den Kopf schüttelnd um dann kurz den Blick von der Erde zum Sternenhimmel zu richten.„ Mein Junge“, sagte die Gote, indem sie ihren Arm wieder um meine Schulter legt und ihr Gesicht mir direkt zuwandte, „ Mein lieber Junge, die Milchstraße ist das Band unserer Träume, das uns mit allen Wesen dieser Erde verbindet. Wenn wir die Träume unserer Jugend vergessen, dann verblasst dieses Band, es wird immer schwächer, bis es irgendwann ganz verschwindet. Zurück bleiben nur die Asche in unseren Herzen und der Staub auf unserer Erde. Wir Menschen sollen uns zwar die Erde untertan machen, aber wir müssen vorsichtig sein, dass wir sie nicht zerstören. Denk immer daran, dass wir Kinder dieser Erde sind, wie alle Geschöpfe dieser Erde. Bewahr dir die Träume deiner Jugend, ließ der Dichter Schiller seinen Don Carlos sagen. Wie Mutter Erde den Sternenkindern das Band am Himmel als Trost schenkt, so schenkt sie uns unsere Träume von einer besseren Welt. Ohne dieses Band und ohne diese Träume sind wir Erdenkinder in der Dunkelheit und Kälte des Alls auf immer verloren“. Gote nimmt danach meine Hand, steht auf und wir beide gehen still durch die Nacht zum Haus.
Die Sonne im zehnten Haus, im Zeichen der Jungfrau geboren, mit dem Aszendenten Skorpion, den Mond im neunten Haus im Zeichen des Löwen, den Merkur im elften Haus im Zeichen der Waage, die Venus im zwölften Haus im Zeichen des Skorpions, den Mars im fünften Haus im Zeichen des Widders, mit dem höchsten Punkt des Horoskops im Zeichen der Jungfrau; so wurde ich als zweiter Sohn des Volksschullehrers Heinrich und der Hausfrau Frieda Luise am 17. September 1941, kurz nach dem Sonnenhöchststand dieses Tages in der Mitte des Saarlandes geboren. Nach indianischem Kalender bin ich im Zeichen des Erntemondes als Kind der Erde geboren. Mein Tiertotem ist der Braunbär, mein Pflanzentotem das Veilchen und mein Steintotem der Türkis. Nach meiner, der saarländischen Lesart, bin ich geboren als ein Kind der rotbraunen lehmigen Erde, im Sonnenzeichen rauchender Kartoffelfeuer und unter dem herbstlichen Mond der nach Süden ziehenden Zugvögel. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, kam ich mit dem Steiß und den Füßen zuerst auf die Welt und wehrte mich - nach den Bekundungen aller bei der Geburt Anwesenden - heftigst, überhaupt in diesem Leben anzukommen. Somit ist festzuhalten, dass es meine Mutter schon immer mit mir schwer gehabt hat, was sich bis zu ihrem Tod nicht geändert hat.