Kurzbericht zum Jahr 2019: Was im Telegrammstil von Bedeutung war
Aus dem Leben eines Zeitungslesers : Eine Revue durch mein Leben als Zeitungsleser
Die Mainzelmännchen sind Markenzeichen des ZDF geworden. Bei meinem Abschied vom Hauptstadtstudio des ZDF mischen sich die Berliner Wichtel des Zollernhofes ein.
Wildtiere in der Stadt laufen vor allen Dingen den Menschen über den Weg, die ganz früh oder ganz spät unterwegs sind. So geht es mir mit den Füchsen in der Stadt.
Kurz und knapp zum abgelaufenen Jahr 2019:
Fing ja ganz gut an, unser altes Auto war übern TÜV, hatte neue Reifen, die Klimaanlage war repariert und alle Macken beseitigt. Eigentlich ein guter, wenn auch
recht teurer Start ins Jahr 2019.
Zu früh gefreut, mit einem Schlag fliegt keine zwei Monate später der Motorblock auseinander und der Wagen ist nur noch Schrottwert. Zur gleichen Zeit glaube ich
ebenfalls abzuschmieren, weil meine Pumpe und meine Luft gleichzeitig aus dem Takt geraten. Die blöden Tabletten und Sprays nutzen nur wenig, verursachen aber dafür eine Depressionsstimmung, die
mich in einen tiefen Abgrund stürzen lässt. Alles im Eimer, nur der Kopf funktioniert noch einigermaßen leidlich – bis auf das Kurzzeitgedächtnis – aber dafür und für alles andere habe ich ja ein
fürsorgliches Weib. Im Schrebergarten läuft auch nicht alles rund, weil unser Bienenvater und Freund Franjo sich mit anstehenden Umbauarbeiten und Hilfen etwas zu bequem macht. Also wieder Geld
in die Hand nehmen, damit meine Liebste zumindest dort etwas Ruhe und Erholung von dem Stress mit mir und Ihrer alltäglichen Arbeit hat.
Langsam aber sicher scheint das Jahr und die Ereignisse sich etwas totgelaufen zu haben und ich hoffe das Chaos wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Von den Machern bei der Krimiserie habe ich lange nichts mehr gehört, außer einer Email, die so sehr nach einer eleganten Entlassung aus der Mitarbeit roch, dass
ich sie zuerst einmal komplett ignorierte. Vor einer knappen Woche nun hat mich Michael kurz angerufen und mir mitgeteilt, dass es voraussichtlich doch weitergeht. – Warten wir ´s ab.
Eigentlich gehört die Lektüre eine Tageszeitung von Jugend an zu meinem Leben. Die Titel der Tageszeitungen mögen gewechselt haben, die Rituale beim Lesen nur wenig. Eigentlich lebte ich von Jugend an im Zustand mehr oder wenig „gesicherter materieller Armut“. Dies ist bis heute so geblieben. Die „geistige Verarmung“ aber setzt erst jetzt bei mir ein. Die nachfolgende Geschichte schildert, wie dieser Weg verlaufen ist.
Eine abonnierte Tageszeitung konnten wir uns nicht leisten. Die Zeiten und Umstände in meiner Kindheit waren nicht danach. So schloss ich im Alter von zehn Jahren ein Abkommen mit dem einzigen Sohn unseres Nachbarn, der mir gegen kleine Gefälligkeiten die gelesene Saarbrücker Zeitung seines Vaters nach der Schule vorbeibrachte, die ich am nächsten Morgen – vor der Schule – bei dem obligatorischen Glas warmer Ziegenmilch und einem Marmeladenbrot als geistiges Frühstück zu mir nahm. Damit fing mein Leben als Zeitungsleser an.
Ich war von Kind an gewohnt, gegen sechs Uhr in der Frühe an Werktagen spätestens aufzustehen. Früher habe ich als Pendler jeden Morgen meinen Kaffee im ersten Stock des Eiscafés beim Italiener in der Reichsstraße getrunken. Jetzt ist mir dieser Weg zu weit. So suche ich zur Einnahme des Frühstücks einen neuen gastlichen Ort. Alteingesessen nennt man wohl Cafés und Gasthäuser, wenn nicht einmal mehr Stammgäste wissen, wie lange sie die Leistungen dieser Institutionen schon in Anspruch nehmen. Alteingesessen und in Familienbesitz ist das Café, das ich ausgewählt habe. Morgens um kurz vor sechs schließt die Frau des Besitzers, der sich in der Backstube austoben darf, die breite gläserne Eingangstür auf. Sophie, die jüngste ihrer Töchter, etwas älter als meine Wenigkeit, deckt derweil die vordersten Tische ein. Der erste Tisch auf der linken Seite ist unausgesprochen, jedoch von allen Gästen respektiert, der „Personaltisch“. Nachdem Sophie die beiden Tischreihen bis zur Wand mit den Türen zum „Privaten“ und der „Backstube“ mit Decken, Blumenvasen mit stets frischen Blumen, Aschenbecher und Karte versehen hat, holt sie sich vom Tresen ein Frühstücksgedeck, ein Kännchen Kaffee und die Tageszeitung und lässt sich an besagtem Personaltisch nieder. Nach dem siebten Morgen ist es mir gelungen, ohne größeren Protest von Sophie am Personaltisch einen Platz zu ergattern. Sophie hat wohl imponiert, dass der junge Wolfgang, mit der Tageszeitung unterm Arm, bereits am zweiten Tag ihr beim Arrangieren der Stühle und dem Eindecken der Tische hilft. Vielleicht ist auch die beharrlich gleich bleibende Bestellung daran schuld, die am dritten Morgen schon zu ihrer Frage: „Wie immer?“ mit meiner Antwort: „Ja danke, wie immer“, führt. Das Frühstück nimmt Wolfgang nun mit Sophie schon ein, wenn die breite Eingangstür noch verschlossen ist. Er benutzt nun den Personaleingang durch die Backstube. Danach wird gemeinsam eingedeckt. Dann liest Wolfgang seine Tageszeitung, während Sophie ihm ein zweites Kännchen mit Kaffee an seinen Platz am Personaltisch stellt. Wenn Wolfgang kurz vor acht Uhr am Morgen seine Zeitung zusammenfaltet, sein Gedeck hinter dem Tresen abstellt, dann gibt ihm Sophie einen leichten Klaps auf seinen Rücken oder knufft ihn kameradschaftlich in die Seite: „Bis dann denn“. „Ja, bis morgen früh“, antwortet Wolfgang und kneift sie seinerseits an einer Stelle, die Sophie immer leicht erröten lässt Eines Morgens, als Wolfgang wie gewohnt durch den Seiteneingang und die Backstube das Café betritt, steht die Mutter am Tresen und macht sich an seiner Kaffeemaschine zu schaffen. Als er zum Personaltisch kommt, steht dort ein großes handgemaltes Schild auf dem geschrieben steht: „Reserviert für Angestellte“. Auf die Frage nach Sophie, antwortet die Mutter nur: „Ich weiß nicht, was Sie Sophie angeht, junger Mann. Im Übrigen: für Gäste öffnen wir erst in einer Viertelstunde“. Wolfgang versteht und sucht seitdem wieder nach einem Frühstückscafé. Tage später trifft er Sophie in der Stadt am Arm eines nicht mehr ganz so jungen Mannes. Sie ignoriert selbst seinen freundlichen Gruß. Wolfgang selbst hat danach das Café nie mehr betreten.
Zu späterer Zeit komme ich vom Lehrgang, soeben zum Kommissar gebacken. Nach einem halben Jahr in der Direktionsabteilung, pflichtgemäß
Veröffentlichungen für die Literaturdatenbank des BKA erfassend, ist es mir endlich wieder vergönnt an die Front der Verbrechensbekämpfung zurückzukehren. Einer Sonderkommision werde ich
zugeteilt, die in den letzten Zügen liegt und sich seit Jahren mit der Bekämpfung einer absonderlichen Kriminalität befasst. Ruppert weiht mich in all die feinen Besonderheiten der Soko ein, da
er in einigen Wochen zum Kommissarslehrgang gehen wird, der für die älteren Semester des mittleren Dienstes eingerichtet wird. Ich darf somit Totengräber für die vielen unnützen Verfahren spielen
und gleichzeitig zusehen, ob und was davon noch zu retten ist. Es dauert keine drei Wochen, da eröffnet im größten Büro der Soko, das sowohl Geschäftszimmer und mein Büro ist, frühmorgens kurz
nach sieben Uhr das Café „Böck“. Die Sekretärin Manu besorgt Brötchen und Belag, während ich Kaffee und Tee aufsetze und die Schreibtische eindecke. Irgendwie erinnert mich das Ganze etwas an das
Frühstücks Café mit Sophie in meiner Saarbrücker Zeit. Bevor die Kollegen zur Frühbesprechung erscheinen, haben Ruppert, Manu und meine Wenigkeit die ersten Tassen Kaffee mitsamt Brötchen
vertilgt und ausführlich alle Neuigkeiten aus den Tageszeitungen besprochen. Danach kommen die Kollegen einzeln angezockelt und spätestens um halb neun schließt das Café Böck nach der
Frühbesprechung wieder und jeder geht seiner Ermittlungstätigkeit nach.
Das Café „Böck“ wird nach fast drei Jahren mangels Masse geschlossen. Manu hat sich in die freie Wirtschaft abgesetzt, wo ihr neues Gehalt ihren Fähigkeiten zumindest in etwa entspricht. Ruppert
ist als Kommissar vom Lehrgang zurück und schlägt sich nun mit chinesischen Triaden, die ihre unfeinen Schutzgelderpressungsmethoden bei den hier angesiedelten Betreibern von Chinarestaurants
ausprobieren möchten. Die übrigen Kollegen der Soko sind an ihre alten Wirkungsstätten zurückgekehrt, und ich habe mit Helmuth und zwei jungen Staatsanwälten die Sonderkommission und danach auch
das Café „Böck“ zu Grabe getragen.
Die nächsten Jahre arbeite ich im Kriminaldauerdienst, das heißt in wechselnder Schichtfolge zwischen Tag- und Nachtdiensten pendelnd. Da ich gleichzeitig noch einen Restbauernhof im Hintertaunus zum neuen Domizil umbaue, sind geregelte Frühstückszeiten mit Zeitunglesen wieder zur Rarität geworden. Trotzdem gelingt es mir zumindest zweimal in der Woche mich zu einem Kaffeezeremoniell durchzuringen. Nach dem letzten Nachtdienst fahre ich zu dem an meinem Nachhauseweg liegenden Café „Klatsch“. Das Café ist beliebt bei Leuten, die allgemein als „ Linksalternative“ bezeichnet werden. Dort trinke ich einen obligatorischen Milchkaffee, der in einem fast an einen Eimer erinnernden Humpen ausgeschenkt wird. Dazu gibt es ein Schokocroissant sowie die „TAZ“ oder ein Blatt der Grün-Alternativen Liste zu lesen. Wenn ich Pech habe, gerate ich in eine heiße Diskussion mit einigen der Stammgäste, die als Unterstützer der zweiten oder dritten RAF Generation angesehen werden. Solche Diskussionen sind nicht ohne Reiz, jedoch muss ich mich immer etwas zurückhalten, da einige Tische weiter sich meist eine Runde von Lausch & Co. aus dem nahen Mainz etabliert hat, die mir später in ihren schlecht getarnten zivilen Einsatzwagen bis in den Hintertaunus nachhechelt.
Vor dem ersten Mittagsdienst hingegen bevorzuge ich wieder einen Besuch in einem der alteingesessenen Cafés, nämlich dem Café „Maldaner“ in der Fußgängerzone. Nicht nur das Café ist alt, mit plüschbezogenen barocken Zweisitzern und Sesseln, dunklen Marmorplatten auf den ovalen oder runden Tischen mit geschweiften gedrechselten Füssen; nein auch die Bedienung ist gediegen, schwarz gekleidet, in gesetztem Alter mit gemessenem aber trotzdem flinken Schritt. Bei einem Kännchen schwarzen Kaffee und einem doppelten Remy lese ich hier meist die Süddeutsche oder Frankfurter Zeitung, manchmal auch die „Zeit“. Wie das so ist in einem Café, das überwiegend von Stammgästen besucht wird, werde ich nach wenigen Wochen von allen gegrüßt. Die Bedienung bringt ungefragt das Kännchen Kaffee und den doppelten Weinbrand, vergisst auch nicht, mir die auf den Hängeleisten angebrachten Tageszeitungen, sofern sie frei sind, mitzubringen. Erst als ich aus dem Schichtdienst aussteige, um wieder alltags der Jagd nach Falschmünzern und illegalen Glücksspielern nachzugehen, enden die Besuche im Café „Klatsch“ und im „Maldaner“.
Erst während meiner Abordnung nach Berlin zur ZERV, die wir so nennen wegen des bürokratischen Wortungeheuers der „Zentralen Ermittlungsgruppe Vereinigungs- und Regierungskriminalität“, erlebt das Café eine Wiederauferstehung. Das „Gesamtdeutsche Cafékränzchen“ wird 1992 im zweiten Stock eines Bürogebäudes in der Landgrafenstrasse eröffnet. Unsere Truppe besteht aus Polizeibeamten, die aus beinahe allen Ländern der Bundesrepublik nach Berlin abgeordnet sind. Lediglich mein Kommissariatsleiter sein Stellvertreter sowie zwei Sachbearbeiter sind Berliner Eigengewächs. Da ich vorläufig der einzige mit Erfahrung im Waffenbereich bin und zudem über einen privaten Computer verfüge, der auch dienstlich genutzt werden darf, beziehe ich das große Zimmer neben dem Leiterbüro, das auch zu Besprechungszwecken genutzt wird. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass kurze Zeit später an jedem Arbeitstag „Böcks Gesamtdeutsches Cafékränzchen“ geöffnet hat. Frühmorgens bin ich zusammen mit meinem Chef, der erste der, wie von alter Zeit her gewohnt, die Kaffeemaschine anwirft und den Besprechungstisch eindeckt. Bis alle Kollegen aus unterschiedlichen Bezirken der Stadt eintrudeln, haben wir die neuesten Zeitungsnachrichten besprochen und die Themen für die Frühbesprechung zusammengestellt. Nach Frühstück und Besprechung verziehen sich die Kollegen in ihre Büros zur Arbeit.
Mit den Jahren ist das Gesamtdeutsche Cafékränzchen immer mit der Zeit und der ZERV mitgezogen. Gewechselt haben Örtlichkeiten, Büroeinrichtungen
und Ausstattungen und auch Mitarbeiter. Zur Halbzeit des ZERV- Spiels hat sich „Böcks Gesamtdeutsches Cafékränzchen“ im ehemaligen Offiziersclub des gleichfalls ehemaligen Hotels der US
Streitkräfte am heute auch ehemaligen Flughafen Tempelhof niedergelassen. Nun sitzen wir alle zusammen in einem toll begrünten Großraumbüro, verfügen über mehrere dienstlich beschaffte
elektronische Schreibmaschinen und sogar über zwei Einzelplatzcomputer. Selbst die harten, hölzernen Bürostühle sind ausrangiert und haben ergonomisch geformten Schreibtischstühlen Platz gemacht.
Nachdem unser Kommissariat das ursprüngliche Aufgabengebiet der meist sowieso nicht verfolgbaren Waffenhandelsdelikte der Organe und ihrer Gewährsträger des in die Bundesrepublik eingegliederten
sozialistischen Bruderstaates mehr oder weniger erfolgreich abgearbeitet hat, sind wir über dubiose Geschichten von oft selbst betrogenen Devisenbetrügern zu den Schmiergeldbrüdern aus Ost und
West gelangt, die in dem Chaos der Nachwendezeit lohnende Betätigungsfelder vorfinden.
Zum Ende der ZERV sind die meisten Büros verwaist, und nur ein versprengter Rest kümmert sich um die Abwicklung der ausstehenden Verfahren. So stirbt das Gesamtdeutsche Cafékränzchen wie auch die
ZERV letztendlich an der Krankheit einer von der Politik gewollten schleichenden Auszehrung.
Danach bleibt mir nur noch kurze Zeit meine Memoiren zu schreiben um diese pünktlich zu meinem Abschied aus dem Beruf den eingeladenen Kollegen zu überreichen. Das morgendliche Ritual nach dem Aufwachen ist seit dieser Zeit immer gleich geblieben. Vor dem Gang ins Bad wird die Kaffeemaschine angeworfen. Nach der Reinigungszeremonie im Bad wird Wasser für Tee aufgesetzt, da es meiner Liebsten nach Genuss einer halben Tasse Milchkaffee nach einer kräftigen Tasse Tee gelüstet. Danach führt mein Weg zum Briefkasten, wo der Tagesspiegel bereits auf mich wartet. Während Ilse noch ein Viertelstündchen oder mehr mit Tee und einem Buch im Bett zubringt, schneide ich drei Scheiben Mehrkornbrot und lege sie mit drei Wurst- und drei Käsescheiben sowie mehreren Blättern Chicorée ins Frühstückskörbchen. Auch die Frühstücksanordnung auf dem Tisch duldet keine Veränderungen: linkerhand die Tageszeitung, vor mir der Frühstücksteller, die Kaffeetasse rechterhand. Nun kann die allmorgendliche Frühstückszeremonie mit Druckerschwärze und Kaffee endlich beginnen.
Der Abstieg begann schleichend und kaum bemerkt. Bis zu meinem siebzigsten Lebensjahr war ich noch fit genug um durch einen 450 Euro Job in etwa
die gestiegenen Kosten für Miete, Strom, Wasser und alles andere, was der Mensch so zum Leben in der Großstadt Berlin braucht, in etwa auszugleichen. In dieser Zeit habe ich etwas mehr über die
politische Landschaft, auch die Medienlandschaft der Bundeshauptstadt erfahren dürfen, als ich als Security Mann bei Landesvertretungen, beim Hauptstadtstudio des ZDF und – aushilfsweise auch
beim Tagesspiegel meine Nächte verbringen durfte. Beim Tagesspiegel habe ich eine der vielen seltsamen Begegnungen erlebt. Früh in der Nacht, wenn die erste druckfrische Ausgabe des Tagesspiegels
vorlag, kam einer, der – aus welchen Gründen auch immer – gestrandeten Obdachlosen dieser Stadt vorbei, um sich ein kostenloses Exemplar des Tagesspiegels zu Gemüte zu führen. Oft habe ich mit
diesem „Professor“, wenn es meine Zeit zuließ, die neuesten Nachrichten, Kommentare und Kolumnen besprochen und diskutiert. Damals habe ich noch nicht erahnen können, welche Bedeutung ein solches
Tun für mich einmal haben könnte. Dann kam der Umzug in die Heimat meiner Liebsten an den Rand des Ruhrpotts und die Suche nach einer meiner finanziellen Möglichkeiten adäquater
Frühstückslektüre. Das seit den ersten Berliner Tagen heiß geliebte Abonnement des Tagesspiegels wurde – wegen der finanziellen Möglichkeiten - auf die Wochenendausgaben beschränkt. Angesichts
der Tatsache, dass sich die diesseits der Lippe vorherrschenden regionalen Nachrichten der „Halterner Zeitung“ als geisttötende Fehlinvestition erwiesen; andererseits ein „Geheimabkommen“ der
beiden konkurrierenden Regionalzeitungen der WAZ und den Blättern der Funke Gruppe dafür sorgte, dass in den jeweilig von einer der Gruppe „beherrschten Gebiete“ nur deren Nachrichten und
Ansichten des Weltgeschehens zu exorbitantem, besser gesagt zu unangemessenem überhöhtem Preis, verbreitet werden konnten und durften, war an eine alltägliche Flucht aus der geistigen Verarmung
nicht mehr zu denken. Zeitweise haben mich gute Freunde noch davor bewahren können von den Alltagsnachrichten abgeschnitten zu sein, indem sie mir
die ausgelesenen Exemplare dieser „Tageszeitungen“ in den Briefkasten steckten. Nun ist dies wegen ihrer meist altersbedingten Beschwerden nicht mehr der Fall. Mit dem Beginn des Jahres 2019 muss
ich mich – auch wegen der Alterswehwehchen und der gestiegenen Lebenshaltungskosten - zwangsläufig entscheiden: entweder keinen Rotwein und keinen Bohnenkaffe mehr oder keinen Tagesspiegel mehr.
Entweder Verzicht auf leiblichen oder Verzicht auf geistigen Genuss.
Meine heiß geliebten Redakteure, Kolumnisten, Kommentatoren, Illustratoren vom Tagesspiegel: es gilt nun Abschied zu nehmen. – Der morgendliche Weg wird mich nun – nach meinem Frühstück - zur
öffentlichen Bibliothek in Haltern am See führen. Dort liegen zu meinem Leidwesen zwar FAZ, Süddeutsche, und regionale Tageszeitungen aus, auch die überregionalen Wochenzeitungen, jedoch nicht mein „Tagesspiegel“. Die neue Leiterin der Bibliothek begründete dies mit dem heute üblichen Verbund regionaler Bibliotheken, die durch
entsprechende Rabatte bei den Sammelbestellungen nicht alle führenden Tageszeitungen unserer Republik im
Angebot haben könnten.
Mit Wehmut grüßt Euch aus der Ferne Wolfgang Böckel alias Wulf Bokolic.
Eine Abschiedsgeschichte für meine Kollegen vom Sicherheitsdienst
Heute feiern wir Abschied vom ZDF. Wie fast immer bin ich zu früh dran und setze mich deshalb auf dem Mittelstreifen unter den Linden auf die Bank, mit Blick zum Zollernhof. Kaum habe ich meine Tasche mit der Rotweinflasche abgestellt und Platz genommen, höre ich die mir vertraute Stimme des SOW: „Nanu Böck, kein bisschen traurig. Du wirst mir schon fehlen. Bist ja einer der wenigen Menschen, denen es vergönnt ist Unsereins zu sehen und zu hören“. Das SOW sitzt neben mir auf der Bank und plaudert munter weiter.
Ihr werdet fragen wer oder was ist das SOW? Da muss ich schon etwas weiter ausholen. Das SOW oder mit vollem Namen das Sicherheits&Ordnungswichtel ist eines der sechs Wichtelmännchen des Zollernhofes. Der Begriff Wichtelmann ist nur unter uns Menschen gebräuchlich. Sie selbst bezeichnen sich als die oder das Wichtel, weil sie, wie mir SOW versichert, weder Männlein noch Weiblein sind, sondern beides in einem, sozusagen transsexuelle Elben. Kennen gelernt habe ich SOW fast auf den Tag genau vor vier Jahren als ich von meiner Firma zur Einweisung zum ZDF geschickt werde.
Damals pendele ich unschlüssig zwischen dem Eingang unter den Linden 36 und dem Eingang unter den Linden 38, finde an jedem Eingang ein Schild mit dem Logo des ZDF und bleibe schließlich in der Mitte, dem Eingang zum Zollernhof stehen. Wie immer bin ich zu früh dran. Plötzlich höre ich ein piepsendes Stimmchen, mit einem durchaus hämischen Unterton: „Hi, hi, schon wieder einer, der nicht weiß wohin, lassen wir ihn weitersuchen oder etwa nicht“. Ich drehe mich einmal um meine eigene Achse und sehe außer ein paar gelangweilten Touristen an der Haltestelle des Rundfahrtenbusses niemanden, dem die Stimme zuzuordnen ist. Erst als ich vor mir auf den Boden schaue sehe ich zwei absonderliche Gestalten. Das eine ist eine schemenhafte blaugrün irrlichternde durchscheinende Gestalt in der Größe eines dreijährigen Kindes, das andere ist ein alter verhutzelter zwergenhafter Gnom, mit einem übergroßen hoch gezwirbelten Schnauzbart. Er steckt in einer preußischblauen Uniform mit roten Aufschlägen an Kragen und Manschetten. Auf dem Kopf sitzt etwas schief eine arg zerbeulte Pickelhaube. Das preußischblau gekleidete Wesen spricht mich danach mit einer befremdlich dunkel klingenden Stimme an: „Na Böck, gucken se nich so doof, ich bin ja nur euer Sicherheits&Ordnungswichtel vom Zollernhof und der da ist der Türkobold“. Dabei stößt er die blau irrlichternde Gestalt mit dem Zeigefinger an: „Weg mit dir, an die Arbeit und keine Späße mehr heute“. Schon ist der Kobold auf und davon mit einem leichten „Hi, hi, oh wie schade, hätte mir doch Spaß gemacht, den Böck noch ein wenig zu necken“.
„Nenn mich kurz nur SOW mein lieber Böck und komm jetzt mit“, sagt Preußischblau und geht, ohne auf den Verkehr zu achten, über die Straße zu einer der Bänke auf dem Mittelstreifen. Ein, zwei Autos fahren einfach durch ihn hindurch, das scheint ihm jedoch gar nichts auszumachen. Ich selbst muss da schon etwas vorsichtiger sein und so erreiche ich die Bank etwas später. SOW hat die Beine übereinander geschlagen und plaudert nun munter drauflos: „Fragst dich woher ich deinen Namen kenne, das ist ganz einfach, meine Großonkeltante das Polizeiwichtel vom Columbiadamm hat über ein Mainzelmännchen von dem Wiesbadener Casinowichtel erfahren, dass du von Jugend an schon die Neigung hattest Unsereins zu kontaktieren. Muss etwas mit dem Erbgut deiner Patentante mütterlicherseits zu tun haben. Auch die hat zu Unsereins bis an ihr Lebensende Kontakte gepflegt. Nun bist du also zum Zollernhof gekommen. Freut mich, dich kennen zu lernen. Halte zwar nicht viel von der buckligen Verwandtschaft aus Mainz, sind auf dem hohen Ross, seit sie fürs Zweite Deutsche Fernsehen Reklame machen müssen, dabei waren sie vor einer Wichtelgeneration noch die Heinzelmännchen von Köln und mussten den Dom rauf und runterrutschen um nachts ihre Dienste zu verrichten. Später bekam sie der Bischof zu Gesicht und danach mussten sie auswandern, immer den Rhein hinauf bis sie endlich zur Franzosenzeit beim Bischof von Mainz unterkamen. Dort bekam sie durch einen dummen Zufall ein freier Mitarbeiter des ZDF zu Gesicht, der auf eine gute Story so scharf war, dass er das Verbot eines öffentlichen Auftretens oder Abbildens von Wichteln missachtete, und so sind diese armen Tröpfe heute zwar in jedem Wohnzimmer auf der Mattscheibe zu bewundern, aber dafür ihrer Wichtelidentität als dienstbeflissene Helfer der Menschen beraubt. Unsereins hingegen ist schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts das preußischblaue SOW Unter den Linden. Zuerst in den Bürgerpalästen, danach bei den Leihbibliotheken, später in den Büros und Kanzleien. Mein Großmuttervater trug noch die Laterne an einem Stock und das Feuerhorn des Nachtwächters am Gürtel über die Fischerinsel. Doch genug der Geschichte. Du musst jetzt zu deiner Einweisung beim ZDF, grüß mir die Kollegen und bis bald einmal“. Damit löst sich das SOW vor meinen Augen in Luft auf.
Die nächste Begegnung mit SOW beschert mir einige Überraschungen. Bei meinem ersten Nachtdienst in der Lobby Unter den Linden 36 erscheint das SOW, nachdem die Übernachtungsgäste sich zur Ruhe begeben haben, und bittet mich kurzerhand ihm zu folgen.
Ich melde mich für diese Zeit bei den Kollegen ab, steige hinter dem SOW die Treppe hoch und „schwupdiwupp“ öffnet sich auf geheimnisvolle Weise die Tür zu dem noch im Rohausbau befindlichen Teil des ZDF. Auf dem staubigen Fußboden sehe ich eine Menge kleiner Fußabdrücke. In einer Ecke drängt sich eine Gruppe blauflimmernden Kobolde in der anderen Ecke stehen fünf Wichtel. SOW stellt mir die Wichtel der Reihe und dem Alter nach vor:
Das Licht &Tonwichtel, kurz LTW genannt
Trägt unter einer ledernen Rundkappe einen geflochtenen, langen Haarzopf, ist bekleidet mit einem rußigen grauen Umhang an dessen Gürtel eine Dochtschere und ein Lampenputzer hängen. In der Hand hält es eine altmodische Flüstertüte.
Das Kanzlei&Datenwichtel, kurz KDW genannt
Mit Plunderhose, hohem Stehkragen sowie einer Langweste mit Ärmelschoner bekleidet, hat es eine Papierrolle in der linken Hand, einen Federkiel hinter dem rechten Ohr und ein Tintenfass am Gürtel.
Das Redakteur&Journalistenwichtel, kurz RJW genannt
Im langen schwarzen Gehrock, ein Monokel vor das rechte Auge geklemmt, trägt es ein rotbuntes Halstuch, eine Moritaten - Bildermappe unter dem Arm und einen Zeigestock in der Hand.
Das Haus&Technikwichtel, kurz HTW genannt
Mit klassischem Latzhosenblaumann bekleidet, Schutzhelm und Brille auf dem Kopf, trägt eine Rohrzange in der linken und einen riesigen Schlüsselbund in der rechten Hand.
Das Produktions&Regiewichtel kurz PRW genannt
Ist offensichtlich das jüngste Wichtel, bekleidet mit Jeans und offenem Hemd, ausgerüstet mit Headset und Pager, das Handy zwischen dem freien Ohr und dem Arm eingeklemmt, in der Hand ein Bündel bedrucktes farbiges Papier.
Das SOW wendet sich danach zur anderen Seite um mir einige der Kobolde vorzustellen. „Dies sind die allernichtsnutzigsten Tunichtgute, die uns und euch unterstützen sollen aber daneben immer zu allerlei Scherzen und teilweise auch üblen Späßen neigen: Alarmkobold, Kulissenkobold, Garagenkobold, Türkobold, Putzkobold, Schlüsselkobold, Dispokobold, Lampenkobold, Kabelkobold, Kamerakobold, Studiokobold, VIP-Kobold, Konferenzkobold, Pressekobold, Computerkobold“. Nachdem ich wieder zu meiner eigentlichen Arbeit entlassen werde, höre ich das Geraune, Gekichere und Gebrummele der Wichtel und Kobolde bis zum Schichtende am frühen Morgen. Im Verlauf der nächsten Monate und Jahre lerne ich während meiner Arbeit das eine oder andere Wichtel oder den einen oder anderen Kobold näher kennen und heute weiß ich mit ihren durchaus individuellen Besonderheiten umzugehen.
Vor Allem während der ersten Wochenendrunden im ZDF begleitet mich entweder das SOW oder der Türkobold durchs Haus. Das SOW ist immer freundlich und plaudert in einem vor sich hin, nicht ohne mich ab und zu unterstützend auf einige Kleinigkeiten hinzuweisen. „Hier bei den Türen mit dem roten Punkt oben rechts musst du aufschließen, den Raum kontrollieren, deistern und auch wieder abschließen. Ach übrigens wusstest du, dass Bettina von Arnim ab 1845 in einem der Vorgängerbauten wohnte. Sie war zeitweise sehr knapp bei Kasse. Einmal wollte sie sogar eine Milchkuh im Innenhof einquartieren. Mir hätte es ja nichts ausgemacht, aber die Viehhaltung war in den Höfen verboten, weil die hohen Herren Unternehmer, Kaufleute, Juristen, Juweliere, Buchhändler und Professoren sich in solcher Gesellschaft nicht gut genug repräsentieren konnten. Selbst das Halten von Federvieh war Unter den Linden verpönt. Später wurde der Zollernhof ein reines Bürohaus. Uns Wichtel einschließlich des Hausmeisters hat man in die Mittelstrasse umquartiert, damit wir und die Handwerker die hohen Herren nicht zu sehr störten.“ So geht mit lockerem Geplauder jede Hausrunde schnell zu Ende.
Der Türkobold hingegen ist ein sehr schadenfreudiges Wesen. Ist bei den Nachtrunden eine Bürotür nicht abgeschlossen, dann hüpft er aufgeregt von einem Bein aufs andere: „Hi, ha hu, diese ist nicht zu, Zettel raus und Zettel dran, was sind wir ein irres Gespann“. Wenn ich mich an den Wochenenden in der vierten Etage schlichtweg weigere zu den bereits angebrachten Zetteln noch weitere dazuzupappen oder die Zettel im Büro auf den Schreibtisch ablege, wird der Türkobold fuchsteufelwild. Das zahlt er mir regelmäßig heim, indem er beim nächsten Mal, wenn ich einen grünen Türfrosch außer Gefecht setzen soll, diesen ganz hässlich aufquäken lässt. Auch liebt er es ab und an die Automatik der großen gläsernen Doppeltüren zu stören, sodass diese unkontrolliert auf- und zugehen. Wenn er diese jedoch während einer Sendung im Innenhof zum Quietschen bringt, handelt er sich jedes Mal einen Fußtritt vom SOW und eine saftige Backpfeife vom PRW ein.
Der Alarmkobold ist ein kleiner Macho, der es besonders auf unsere liebe Astrid abgesehen hat. Jedes Mal, wenn sie Schichtleiterin ist, versucht er den einen oder anderen Scheinalarm auszulösen, um sie ein wenig zu necken. Zum Schluss hat er es ein wenig übertrieben und handelt sich eine handfeste Rüge durch SOW ein, der ihn eine Zeit lang von seinem Lieblingsplatz der Alarmkonsole in der Lobby zu der stickigen fensterlosen Ausweichkonsole in der Mittelstrasse verbannt. Danach ist er wie ausgewechselt, immer freundlich, zuvorkommend und fragt grundsätzlich nur bei Carsten nach, ob er spielen dürfe. Im Übrigen ist Carsten der Freund aller Kobolde, wohl weil er selber immer zu irgendwelchen Neckereien aufgelegt ist.
Schlüsselkobold und Computerkobold liegen sich fast immer in den Haaren. Der Computerkobold ist etwas eifersüchtig auf den Schlüsselkobold, der ein besonders inniges Verhältnis zu dem in Schlüsseldingen unbarmherzigen Sepp Michael hat. So lässt der Computerkobold seinen Ärger über dieses ungetrübte Verhältnis dadurch aus, dass er manche Datei oder Formatierung zum größten Unwillen Sepp Michaels von dessen Account löscht oder verändert.
Auch lässt er manchmal aus unerfindlichen Gründen die über den Kopierer eingescannten Blätter einfach ins Nirwana verschwinden.
Wiederum der Schlüsselkobold stampft wütend mit dem Fuß auf, wenn der Schlüssel zur unteren Garderobe von einem jüngeren Kollegen ohne Eintrag für fünf Minuten in der MOMAwoche zum Umziehen an den Wettervogel oder eine der Damen abgegeben wird. Richtig rüpelhaft reagiert er, wenn die Schlüsselkontrolle Unstimmigkeiten ergibt: „Schluderer elendigliche Menschenschluderer, sofort alles abbrechen, Schlüssel suchen, sofort im Tagesbericht vermerken, ganz wichtige Schlüsselschluderei“. Er kann sich gar nicht mehr beruhigen, dabei handelt es sich meist um einen Zahlendreher oder ein kleines Versehen. Auch wenn im Schlüsselbuch ein Falscheintrag korrigiert wird ist er sofort zur Stelle: „Urkundenfälschung, Verbrechen gegen die Sicherheit, verabscheuungswürdige Tat“. SOW kann ihn nur damit ärgern, dass er dahinter stehend ihm leise in seine spitzen Ohren flüstert: “Kein Schlüssel und keine Karte ist bisher wirklich abhanden gekommen, was machst du also immer solchen Terz. Du nervst wie der Türkobold, der hinter seiner Quäke sitzt und den armen Schichtleiter bis zu 180 mal in der Stunde den Türöffner betätigen lässt und, wenn er nicht schnell genug reagiert auch noch zweimal oder dreimal quäkt und den Leuten im ZDF auch noch versucht einzuflüstern, dass die armen geplagten Securityleute doch gefälligst ihre Augen überall haben müssten und gefälligst die Türen öffnen sollten, bevor noch jemand überhaupt den Rufknopf drückt. SOW hat schon recht, wenn er seine Kobolde allernichtsnutzigste Tunichtgute nennt, die sich untereinander häufig um ihre Kompetenzen rangeln. Garagenkobold und Türkobold sind ein gutes Beispiel dafür. Türkobold zu Carsten: „Da will die XYZ mit ihrem Pkw in die Garage.“ Garagenkobold zum Schichtleiter: “die hat aber keine Anmeldung, kein OK von der Verwaltung, nicht in der Reservierung.“ Carsten zum Schichtleiter: „ Die 34 ist doch frei, erst für 15:00 Uhr reserviert.“ Garagenkobold zum Türkobold: „Was mischt du dich ein, geht dich einen Dreck an, Tür zu und Schranke unten lassen.“ Protest von allen Seiten. Anruf bei der Verwaltung, Parkerlaubnis erteilt, Reservierung vergessen einzutragen, Einfahrt erfolgt. Türkobold zu Garagenkobold: „du alter Quertreiber, Paragraphenreiter.“ Garagenkobold zu Carsten: „das zahl ich dir heim“. Tage später öffnet der Mitarbeiter an der Lobby ZDF die Ausfahrt für einen Radfahrer, Carsten an der Lobby UDL schließt sie auf Einflüsterung des Garagenkobold pflichtgemäß sofort wieder und der Türkobold schreit: „ Holla, jetzt fährt die nachfolgende Radfahrerin gegen die schließende Schranke und du bist schuld daran, was hörst du auch auf den blöden Paragraphenreiter Garagendödel“.
Alarmkobold gegen Türkobold ist ein weiteres Beispiel für diese Reibereien, die auf unserem Rücken ausgetragen werden: Austragungsort der Fehde ist diesmal UDL 36. Leidtragende sind einmal unser Carsten und einmal unser Fred an der Lobby ZDF sowie der jeweils Nachtdienst schiebende Springer an der Lobby UDL. Von den beteiligten Kobolden ausgenutzt wird dabei die Zerstreutheit der EON VIPs, die sich nach einem wodkabegossenen Geschäftstreffen bei der Russischen Botschaft von selbst ergibt. Mr. Wolf achtet scharf darauf, dass die ihm anvertrauten hohen Herrschaften sich im Schutz alarmgesicherter Apartments zur Nachtruhe betten. Selbstverständlich verfügen die Herren über Zutrittskarten als auch über ausreichende Kenntnis, unter welchen Bedingungen ein nicht alarmauslösender Zutritt zu ihren Gemächern möglich ist. Trotzdem gelingt es dem Türkobold die Herren immer wieder zu verleiten, ihren Zutritt so zu gestalten, dass es zur Auslösung eines Einbruchalarms kommen muss. Der Alarmkobold ist jedes Mal außer sich vor Wut, Mr. Wolf hingegen freut sich diebisch, dass die Kobolde die hohen Herren, wie auch Sicherheitsmitarbeiter überlisten konnten. So wie zweimal in unserer Crew Achim vertreten ist, gibt es unter den Kobolden zwei Kulissenkobolde. Wie der eine Achim ruhig, ab und an etwas brummig und wortkarg ist, so ist der Kulissenkobold, der dem Bühnenmeister des ZDF zur Seite stehen soll, recht ruhig und gutmütig, achtet aber sorgfältig darauf, dass Absperrungen stehen, Stolperfallen gekennzeichnet und Schilder an ihren Plätzen sind. Der andere Achim ist wie ich ein Springer, immer zu einem kleinen Schwatz bereit, kann aber auch jeden Besucher in endlose Gespräche verwickeln. Der andere Kobold, der die Aufbauarbeiten für DOC Station begleiten soll, ist sein Spiegelbild, dabei neigt er jedoch im Gegensatz zu Achim zu bösen Späßen. Er bringt es fertig, ahnungslosen Touristen tückische Fallen zu stellen, Warnschilder auszutauschen oder Kamerakabel ohne Kabelbrücken verlegen zu lassen. Das tollste Stück hat er sich mit Achim geleistet, als er diesen in ein Gespräch verwickelte und ihn dabei über den Rand des Podestes hinauslockte, auf dem dieser stand. Prompt hat sich Achim dabei den Knöchel gebrochen. Das SOW hat den bösen Kulissenwichtel zu drei Wochen harter Kulissenschieberei zwischen Innenhof und dem Lager in der Mittelstraße verdonnert, wo er in dieser Zeit auch in der dunklen Schilderkammer nächtigen musste.
Mit dem LTW, dem ältesten der Wichtel haben wir nicht allzu viel zu tun. Meist ist es in Begleitung des Lampenkobolds. Einmal während der Sommerpause traf ich es bei einer der späten Obergeschossrunden auf der zweiten Etage, wo es sich meist aufhält, wenn es nicht gerade in den Untergeschossen herumturnt. Da ließ es sich herab, mit mir ein längeres Gespräch zu führen. Gespräche von Wichteln mit Menschen sind einseitige Angelegenheiten, meist arten sie zu Monologen aus. Dies liegt wohl daran, dass sie untereinander mehr auf gedanklicher Ebene kommunizieren. „ Ja ich bin im Vergleich zu den anderen Wichteln des Zollernhofes schon sehr alt. Du wirst dich wundern, warum wir Wichtel teilweise so unzeitgemäß daherkommen.
Es liegt einfach daran, dass wir Kopfgeburten sind und bei der Geburt ein bestimmtes Aussehen, Kleidung und dieser Zeit entsprechende Amtsinsignien mitbekommen. Dies alles behalten wir für unser ganzes Leben bei und das kann gut ein halbes Jahrhundert dauern. In meiner Jugend war ich den Menschen als Dochtbehüter behilflich Kerzenlicht am Brennen zu halten oder bei Gefahr auszulöschen. Dies war eine schmutzige Arbeit. Auch hab ich mir schon bei den großen Leuchtern im Theater oder auf den Bällen die Finger gehörig verbrannt. Meine Lederkappe hat die Haare vor dem herabtropfenden Wachs beschützt. Meine Vatermutter hat übrigens mit Kienspan und Talgdochtlampe gearbeitet. Ab 1678 soll auf Anordnung des Großen Kurfürsten vor jedem dritten Haus des Abends eine Laterne aufgehängt werden. Doch den Menschen war dies zu viel Arbeit. Also wurde 1862 die allgemeine Brennordnung für Öllaternen eingeführt und meine Lampenkobolde von mir mit der Überwachung beauftragt. Ab dem September 1862 wurde ich zuständig für die neuen Gaslaternen unter den Linden. Ab 1893 war dann die „Berliner Gaslaterne“ überall im Einsatz. Damals übernahm mein Tochtersohn die Überwachung der Straßenlampen in Berlin. Ich selbst wurde Spezialwichtel für Theaterbeleuchtung und später nach Erfindung des Radios Licht&Tonwichtel.
Heute arbeitet in dieser Sparte eine Vielzahl meiner Nachkommen. Ich bin nur noch das LTW vom Zollernhof beim ZDF“. Zum Ende des Gesprächs klopfte er einem Lampenkobold auf die Finger, der dabei war auf einer elektronischen Mischanlage herumzuhacken und verabschiedete sich in Richtung BAR 16 davontrabend.
Dem Kanzlei&Datenwichtel begegne ich tagsüber in der Mittelstrasse oder nachts im Archiv oder der Poststelle. Es ist ein zurückhaltendes und schweigsames Wichtel, das sich
in der Regel nur schriftlich oder per E-Mail äußert. Bei der Poststelle flucht das KDW regelmäßig über den Postkobold, der seine Freude darin findet, die sortierten Postsachen durcheinander zu
bringen.
Ansonsten ist es immerzu beschäftigt E-Mails zu verfassen und den Postkobold daran zu hindern die Adressaten der Mails zu vertauschen oder die Antworten in die elektronische Wüste zu schicken. An
der Lobby taucht es regelmäßig Punkt 00:00 Uhr auf und fragt knapp: “Tagesbericht schon weg, alle Anlagen gemailt, neue Tagesausweise gestempelt?“ Es schaut kurz noch nach, ob die Dispolisten für
den beginnenden Tag schon da sind, dann ist es wieder verschwunden.
Eines Nachmittags bin ich alleine an der Lobby. Es erscheint ein seriöser Herr mittleren Alters, zwei Aktenordner unterm Arm, die er auf dem Tresen ablegt und nach seinem Begehr gefragt, gibt er an zur Redaktion von Frontal 21 zu wollen. Ich frage höflich nach dem Namen und muss feststellen, dass er mehr als etwas zögert, mir diesen bekannt zu geben. Der Tagesausweiskobold daddelt unter der Theke „Ausweis, ganz wichtig Ausweis, Personalien eintragen, dann erst Tagesausweis ausgeben“. Da spüre ich den Zeigestock des RJW auf meiner Schulter. Das Redakteur&Journalistenwichtel tritt sofort dem Ausweiskobold auf den Fuß und flüstert mir ins Ohr: „Frag nicht weiter, ruf oben an, der Herr will als Informant nicht in der Liste auftauchen.“ So geschieht es auch. Kurz nach meinem Anruf beim Sekretariat wird der Herr mitsamt seinen Aktenordnern von einem Redakteur persönlich abgeholt. Im Übrigen ist das RJW eines der freundlichsten Wichtel des Zollernhofes. Ab und an, wenn der Herr Bücherredakteur wieder einen knurrigen Tag erwischt hat und sich unwirsch über „Stasi Methoden“ der Securitas auslässt, steht RJW daneben, schaut missbilligend und kopfschüttelnd über sein Monokel und flüstert mir zu: „Mach dir nichts draus, er ärgert sich nur darüber, dass seinen diversen Veröffentlichungen nicht mehr Beachtung geschenkt wird.“
Dem Haus&Technikwichtel, kurz HTW genannt, kann man überall begegnen. Ich sehe es bei jedem abendlichen UDL Rundgang in der sechsten Etage, wo es in den Technikräumen geschäftig von einer leuchtenden Anzeige zur anderen eilt. Es ist ein gemütliches Wichtel, alleine schon wegen der beträchtlichen Leibesfülle nicht zu übersehen. Seine Ausdrucksweise ist rustikal, auch wenn nicht alles so gemeint ist, denn es ist zu gutmütig. „Du kleiner Scheiß Aufzugskobold, hast schon wieder den A 5 blockiert.“ Sorg in Zukunft dafür, dass auf allen Etagen Hinweisschilder rechtzeitig angebracht werden. Verlass dich nicht immer auf die Leute von Kone; sonst lass ich dich fünfzig Mal vom sechsten OG bis ins vierte UG die Treppen auf und ab sprinten oder du wirst in die Grube unterm Aufzug verfrachtet. Dort kannst du dann die Rollen putzen“.
Hinter Zabel und Dehne herhechelnd zu dem Lüftungskobold:“ Kriegst eine auf die Fresse, wenn du vergisst Salz aufzufüllen oder das Wasser aus dem Ausgleichsbehälter ablässt“.
Zum Elektrikkobold: „Wenn du noch in dieser Woche einen Netzwischer verursachst, fessele ich dich ohne Gehörschutz ans Notstromaggregat, bis dir die Ohren wegfliegen und die Eier kochen.“ Mit einigen der braun bekittelten Haustechnikern steht er jedoch öfter auf Kriegsfuß, versteckt ihnen schon mal eine Handwerkerkarte oder einen Pager, wenn sie ihm nicht genügend Beachtung schenken. Auch Goldfasan kann er nicht ausstehen, bringt dessen an sich schon konfusen Pläne durcheinander, weil er sich über die unzureichende Beaufsichtigung und Anleitung von externen Handwerkern ärgert, die ihm, seinen Kobolden und auch uns zusätzliche unnötige Arbeit beschert.
Nach Meinung des SOW ist das Produktions&Regiewichtel noch grün hinter den Ohren und habe zuviel von der weiblichen Wichtelseite mitbekommen. Es sei für ein Wichtel etwas launisch und hektisch. Dafür habe es aber sehr fähige Kobolde mitbekommen, die sich selbst bei einem Versehen bei der Auswahl der Kamera oder bei einem Bild- oder Tonausfall schnellstens um Abhilfe bemühen und entgegen den Gewohnheiten der älteren Kobolde nur bei heißen Proben schon mal den einen oder anderen Scherz betreiben.
Ich soll nicht noch mehr aus dem Nähkästchen plaudern, meint SOW, obwohl es doch noch eine Menge zu erzählen gäbe. Es könnte der eine oder andere beim ZDF auf die Idee kommen, die Wichtel vom Zollernhof für kommerzielle Werbezwecke in Bild und Ton zu setzen. Dies würde jedoch das Ende des selbst bestimmten Lebens der Wichtel und Kobolde vom Zollernhof bedeuten. Lassen wir es also damit bewenden und verabschieden uns nun in gebührender Form von den Kollegen der Securitas; so wie diese vom ZDF und vom Zollernhof.
Morgens 05:00 Uhr
Heute habe ich Frühdienst „Unter den Linden“. So sitze ich in der Küche vor dem Fenster am kleinen Katzentisch, schlürfe meinen Kaffee und beiße ab und an einen Happen von meiner Stulle ab. Dabei schaue ich zum Fenster hinaus in den Garten. Was sehe ich dabei unter dem großen Baum? Ein, nein zwei, nein drei Füchse springen hin und her, einmal um den Baum herum, danach quer über die Wiese. Eine Füchsin spielt mit ihren beiden Jungen „Fangen und Verstecken“. Ab und an werfen sie spielerisch einen Fetzen Stoff in die Luft, fangen ihn wieder auf und balgen sich danach um das gute Stück. Das Treiben und Jagen geht zehn Minuten hin und her, kreuz und quer über den Rasen. Erst als ich das Fenster öffne äugt die Füchsin misstrauisch zu mir herüber und kurz danach sind die drei hinter den Hecken zum Nachbargrundstück verschwunden; derweil die Amsel schimpfend ihr Morgenlied unterbricht und die Kunde von der unerhörten Hatz unter ihrem gewohnten Sängerplatz auf dem hohen Baum in alle Winde verbreitet.
Zwei Wochen später, nachts zwischen 02:00 Uhr und 04:00 Uhr
Aus meinen Träumen reißt mich ein durchdringendes so noch nie gehörtes Jammern und Klagen. Es sind unmenschliche Laute, die vor meinem Haus ertönen. Ich ziehe den Rollladen ein Stück hoch und sehe die Füchsin, wie sie hin und her rennt und nach ihren Jungen schreit. Die aber scheinen sie nicht zu hören. Das Gejammer wiederholt sich in der Folge Nacht um Nacht. die jungen Füchse jedoch sehe ich nie wieder. Erst nach einer Woche hört die nächtliche Ruhestörung auf und auch die Füchsin ist wie vom Erdboden verschluckt.
Morgens 02:30 Uhr
Mein Nachtdienst Unter den Linden ist wie immer ereignislos um nicht zu sagen langweilig verlaufen. Der Übernachtungsgast hat sich bereits gegen Mitternacht zur Ruhe begeben. Die Touristen sind vor dem Gewitter schon früher in ihre noblen Bettenburgen geflüchtet. Der Mittelstreifen Unter den Linden ist bis auf einen obdachlosen Parkbankbesitzer verwaist. Das ist die Zeit für die Spitzmäuse, die vor dem verschlossenen Eingang des Restaurant Maredo, wie auch unter den Müllkörben auf dem Mittelstreifen geschäftig hin und her huschen, um vielleicht doch noch den einen oder anderen bekömmlichen Happen zu ergattern. Aber es ist auch die Zeit unseres Lindenfuchses, der wie immer um diese Zeit von der Friedrichstrasse kommend, langsam über den Mittelstreifen in Richtung Brandenburger Tor dahin schnürt. Die Nase gesenkt, pendelt er zwischen den Müllkörben hin und her, verharrt einmal kurz um danach mit zuschnappenden Satz einer der arglosen Mäuse den Garaus zu machen. Mit hohem Fiepen endet das lustige Mäuseleben und Meister Reinecke trabt hocherhobenen Hauptes, die Maus in seinem Fang, um die Ecke in Richtung Mittelstrasse, wo er in dem Hinterhof des ruinösen Gebäudes gegenüber der früheren amerikanischen Botschaft sich seiner Beute in aller Ruhe widmen kann.
Zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang
Sonntag Nachtdienst in der Hiroshimastrasse am Rande des Tiergartens. Der Tag war schwül warm. Der Nachthimmel ist sternenklar, denn die Gewitterwolken haben sich am Abend nach einem kurzen heftigen Regenguss nach Osten verzogen. Draußen steigen über dem Rasen Dunstwolken hoch. Nach einer ersten Hausrunde sitze ich in meinem klimatisierten Glaskasten und lasse die Bildschirme der Überwachungstechnik vor sich hin flimmern. Alles erscheint friedlich und still. Nur das große Gebäude, mit seiner doppelten Haut, aus Glas Holz und Stahl gebaut, ächzt, seufzt und stöhnt unter den Temperaturunterschieden wie eine alte Frau. Urplötzlich ist es mit dem Frieden vorbei. Die Alarmanlage vom Zaun, zur Rückseite des Gartens, quakt in einem fort. Die Bildschirme zeigen einen Alarm nach dem anderen. Als ich die großen Scheinwerfer am Zaun hochfahre blinzeln mitten auf der großen Rasenfläche zwei Füchse verdutzt in die Kamera. Sie stehen starr, wie zu Stein erstarrt, während ihre Jagdbeute, eine ganze Kaninchensippe, sich hakenschlagend, über die Wiese und durch den Zaun davonmacht. Hin und wieder springt eines der Kaninchen gegen den Zaun, was wiederum erneutes Gequäke an meinem Monitor hervorruft. Zu guter Letzt trollen sich auch die Füchse und ziehen bedröppelt mit gesenktem Kopf auf der Witterung der Kaninchenfährten von dannen. Jedesmal, wenn ich wieder die Scheinwerfer ausschalte, dauert es keine Hausrunde lang und das Gequäke und die Kaninchenhatz beginnt von vorne. Gegen Morgen schalte ich entnervt über den Computer die Hupe aus und kann danach in Ruhe meine vorgeschriebenen Runden laufen. Als die Sommersonne die Dunstschwaden über der Wiese vertreibt geht auch die Jagdsaison zu Ende. Die Karnickel verschwinden endgültig in ihren Erdlöchern und auch die Füchse scheinen einzusehen, dass diese wieselflinke hakenschlagende Sippschaft doch keine so leichte Jagdbeute abgibt.