Recherchen und Entwürfe zu Grimmigen Märchen

Eine in unsere Zeit tradierte , moderne Fassung Grimmscher Märchen  

 

Des Kaisers neue Kleider oder ein nackter Cäsar

 

Ganz im Süden des alten Kontinents liegt ein Land dessen Einwohner zu den freundlichsten Menschen gezählt werden, vermutlich, weil sie, verwöhnt von der warmen Sonne, sich das Dolce Vita zu Eigen gemacht haben. Genauso wie den gesunden Mittagsschlaf lieben sie ihre Bambini, aber auch ihre Pasta und Pizza mitsamt dem Rotwein. Dabei sind Sie immerzu auf Sinnesfreuden und Schönheit aus, was sich in Kleidung als auch in Sprache, Gesang und ihren Kunstwerken wiederspiegelt.

 

Doch zwei Seelen wohnen ach in ihrer Brust. Von alters her

 

Hans im Glück oder Jonny Goodluck

 

Hans erhält als Lohn für sieben Jahre Arbeit einen kopfgroßen Klumpen Gold. Diesen tauscht er gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gibt er für einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein her. Er glaubt, jeweils richtig zu handeln, da man ihm sagt, ein gutes Geschäft zu machen. Von Stück zu Stück hat er auf seinem Heimweg scheinbar weniger Schwierigkeiten. Zuletzt fallen ihm noch, als er trinken will, die beiden schweren Steine in einen Brunnen.
„So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne“. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war.“

 

Fassung der Brüder Grimm
Endlich war er glücklich, die schweren Steine nicht mehr tragen zu müssen.
Hans im Glück ist eines der Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, das nicht mit dem traditionellen Es war einmal ... beginnt.
Entgegen weit verbreiteten Annahmen beginnen nur etwa 41 % aller Grimmschen Märchen mit Es war(en) einmal ... oder dessen mundartlichen Äquivalenten. Zur Erheiterung der Zuhörer war die Reihe der Reden geeignet, mit denen jedermann Hans über den Tisch zu ziehen versteht, und die jedes Mal ein realistischer Lobgesang auf die angepriesenen Alltagsgüter sind.
Das Märchen lässt mehrere volkstümliche Interpretationen („Lehren“) zu, die auf der Hand liegen. Dabei: „Nur die Einfalt findet das Glück“ oder „Frei zu sein, ist mehr als Gut und Geld“ oder auch „mundus vult decipi“ (lat., „die Welt will betrogen sein“). Künstlerisch ist dies als eine Stärke anzusehen.
Hans Verhalten widerspricht jeder Logik und Konvention, was irritiert. Seine Leichtigkeit im Umgang mit anderen kontrastiert zur Konsequenz seines Weges zur Mutter, die das Grab sei. Zu ihrem Symbolkreis gehören auch seine Tiere. bemerkt, das Märchen rufe zur Rückkehr auf. Siegfried Stadler liefert ironisch eine marxistische Deutung. Der Philosoph Ludwig Marcuse schrieb zu Hans im Glück:
„… man besitzt das Glück weder im Gold noch im Schwein noch im Stein. Vieles kann einen glücklich machen; aber kein Gut macht einen glücklich in jeder Beziehung.
Beim ersten Hören oder Erinnern des Märchens fallen spontan zwei Verstehensweisen auf: die eine positive, nach der Hans im Glück zu jenen gutherzigen Menschen gehört, die jedem Ereignis etwas Wertvolles  abgewinnen können und die andere negative, nach der es nicht gelingt, das einmal Errungene sinnvoll zu verwerten. Nach diesen zwei gegensätzlichen Bewertungen richtet sich dann auch die Interpretation. Je nachdem, welchem Menschen wir mit dem Märchen eine therapeutische Hilfe anbieten wollen, wird sich das Gespräch um diese oder jene Auffassung drehen. Haben wir jemanden vor uns, der immer alles festhalten muss, der nicht mutig  genug ist, missliche Situationen zu überwinden, der nicht flexibel genug ist, alte Vorstellungen neu zu gestalten, oder der an Ideologien verbissen festhält, in der Meinung, nur durch hartnäckiges Beharren die Lebensanforderungen zu meistern, dem tut es gut, an Hans im Glück die selige Fähigkeit abzuschauen, dass alles Neue nicht nur weiter führt, sondern dass gerade im fröhlichen Loslassen die Chance  besteht, neues Glück zu erfahren. Äußerlich gesehen mag Hans im Glück immer weniger Güter zu besitzen, bis er mit leeren Händen wieder in sein Heim zurückkehrt, spirituelle gesehen aber eröffnet sich ihm eine neue Dimension der Lebenserfahrung: alle Materie ist letztendlich nur Ballast, und der höchste innerliche Friede kann nur  dann erreicht werden, wenn der äußere Besitz, bzw. die Lust an ihm auf Null zusammengeschrumpft ist. Dennoch bleibt zu fragen, was denn das Heim bedeute, in dem die Mutter auf ihn wartet. Sinnvollerweise müsste man auch hier in die spirituelle Dimension eintauchen, indem die Mutter als Mutter Natur oder mütterliche Göttin gesehen wird, und der Heimgang als das verstanden wird, was man von einem Hingeschiedenen sagt, nämlich, dass er “heimgegangen” sei. Die Tiere und Gegenstände, die Hans im Glück nacheinander auswechselt, stellen demnach verschiedene Epochen oder Seinszustände seiner Wanderung dar: Der Goldklumpen wäre als Symbol seines Selbst   zu verstehen, das nun in den Dienst der spirituellen Reifung gestellt wird. Mit dem Pferd beginnt die Epoche, in der Hans seine Triebnatur zu zügeln lernen muss, mit der Kuh diejenige, die ihn mit dem Erwerb irdischer nahrungsabhängiger Lebensexistenz verbindet, mit dem Schwein die Art, Zufälle und Glück des Lebens anzunehmen, mit der Gans die geistige Sphäre zu schulen und mit den Steinen den harten Kern seines Selbst durch Arbeit zu läutern. Wenn das alles geschafft ist, dann kann er sich am Brunnen seiner seelischen Energiequellen ausruhen, um schließlich mit dem höchsten Gefühl der Glückseligkeit zu seiner Gottheit heimzugehen.
Gegen diese idealisierende Interpretation ist der Einwand nicht von der Hand zu weisen, dass Hans im Glück ja nicht eigentlich das Pferd zu reiten lernt, sondern gleich nach dem ersten Sturz die Reiterei aufgibt, um das Pferd in eine Kuh zu wechseln, deren nahrungsspendende Funktion er ebenfalls nicht auskostet, sondern ohne auch nur einen Tropfen Milch gewonnen zu haben, schon aus lauter Verdrießlichkeit die Kuh in ein Schwein vertauscht. Auch dieses schlachtet er nicht, um in den Genuss eines Festes  mit all seinem Saus und Braus und seinem eventuelle zu erheischenden   Glück zu kommen, sondern lässt sich schnell zu einem schlechten Handel übertölpeln, der ihm  die Gans als wertvoller vorgaukelt als sie in Wirklichkeit ist. Allmählich ist es auch nicht mehr das Missgeschick mit den Tieren, das ihn zum weiteren Tausch veranlasst, sondern die dümmliche Leichtgläubigkeit jenen gegenüber, die ihn offensichtlich betrügen. Am Ende der Geschichte hat er also nichts. Zurück zur Mutter ist die einzige Überlebenschance, die ihm noch winkt.
Das Märchen stellt sich in der negativen Interpretation als ein umgekehrter, gleichsam zurücklaufender Individuationsprozess dar, anstatt zu reifen, fällt der Held allmählich in den infantilen Zustand des besitzlosen und an der Mutter hängenden Kindes. Er ist vollends regrediert. Dazu passt auch die Einstellung, sich des Eigentums sofort zu entledigen, sobald es nicht mehr dienlich oder gar lästig ist. Wie ein Kleinkind von Augenblick zu Augenblick und von Spiellust zu Spiellust wechselt, so auch Hans im Glück. Nichts treibt ihn an, das Gut unter Einsatz von Mühen zu behalten oder damit etwas zu verdienen. Das Pfund, das ihm anvertraut ist, nutzt er nicht, sondern vergeudet es im Leichtsinn. Selbst nach der Gleichnislehre Jesu hat Hans im Glück gegen seine Bestimmung gesündigt. Das Glück ist darnach nur ironisch zu verstehen  in Bezug auf die Unbedarftheit des Antihelden, der nicht einmal bemerkt, wie er im Leben versagt. Er vermag nicht  das Gold als Pfand seines seelischen Reife und Vollkommenheit zu behalten, er lernt nicht zu reiten, um auf seinem Lebenswege weiter zu kommen, er lernt die Kuh nicht zu melken, um sich Nahrung zu beschafffen, er lernt nicht das Schwein zu schlachten, um Nutzen aus den Gegebenheiten zu ziehen, er lernt nicht die Gans zu füttern, um an ihrem symbolhaft geisteigen Höhenflug teilzuhaben und er lernt nicht den Wetzstein zu gebrauchen, um mit ihm seinen Lebensunterhalt zu verdienen.  Die Gegenstände, mit denen Hans im Glück bestückt wird, können auch in negativer Interpretation die gleiche symbolische Deutung erfahren wie in der positiv spirituellen.
Es gibt vielleicht eine Verbindung von der negativen zur positiven Interpretation: Es ist der Hinweis auf die Paradoxie des Religiösen: was niedrig ist, wird erhöht, was klein ist, wird gross, was gering ist, wird mächtig, was krumm ist, wird gerade. Es ist das Rätsel um das heilige Kind, das gerade, weil es unscheinbar, klein, hilflos und unselbständig ist, das Größte genannt wird, weil in ihm der Keim zur vollkommenen Entfaltung angelegt ist. Oder es ist das Geheimnis des Einsiedlers, der alle Güter der Welt aufgegeben hat, um sich in den regressiven Zustand eines Höhlenbewohners zu begeben, sich quasi zurück in einen  natürlichen Erdschoss begeben hat, um die Seligkeit durch seine Weltentrückung zu erfahren. Oder es ist die Gelassenheit des Heiligen, der in jedem Schicksal das ihm zugedachte Los erblickt, selbst wenn er nach und nach Alles verliert. Er hadert dann nicht wie Hiob, sondern dankt Gott wie der hl. Ambrosius, dass er für den Herrn Qualen erdulden darf.
Welche Sichtweise des Märchens angebracht ist, entscheidet letztlich jeder Hörer selbst. Er darf sich dann  selbstkritisch fragen, ob er entweder tölpelhaft wie Hans die Gaben seines Schicksals vernachlässigt und verspielt oder ob er einer Ermunterung bedarf, endlich das loszulassen, was ihn immer wieder belastet.

 

Aschenputtel

 

Die junge Tochter eines reichen Kaufmannes wächst wohlbehütet auf, bis etwa ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter ihr Vater eine Witwe heiratet, die zwei Töchter mit ins Haus bringt. Stiefmutter und Stiefschwestern machen dem Mädchen auf alle erdenkliche Weise das Leben schwer. Weil es nicht nur gröbste Schmutzarbeit leisten, sondern fortan auch in der Asche neben dem Herd schlafen muss, wird das Mädchen Aschenputtel genannt.
Als der Vater einmal zu einer fernen Messe reisen will, fragt er die drei Mädchen, was er ihnen mitbringen soll. Während die Stiefschwestern schöne Kleider, Perlen und Edelsteine verlangen, wünscht sich Aschenputtel nur einen kleinen Zweig Haselreis, der dem Vater auf der Rückreise an den Hut stößt. Diesen Haselreis pflanzt Aschenputtel auf das Grab der Mutter, und er wächst zu einem Strauch (im Märchen: schöner Baum), dem Aschenputtel ihr Leid klagen kann. Wenn Aschenputtel dort weint und betet, erscheint auf dem Bäumchen ein weißer Vogel, der ihr manchen Wunsch erfüllt.
Der König lässt bald darauf auf seinem Schloss ein dreitägiges Fest ausrichten, zu dem alle Jungfrauen des Landes eingeladen werden, damit sein Sohn eine Gemahlin wählen kann. Die Stiefmutter und die eitlen Stiefschwestern wollen nicht, dass Aschenputtel auch an dem Fest teilnimmt, obwohl sie darum bittet. Die Stiefmutter gibt ihr stattdessen auf, Linsen aus der Asche zu lesen (auszusortieren). Dies gelingt Aschenputtel mit Hilfe der von ihr herbeigerufenen Tauben: „… die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen!“
Trotz des Lösens der gestellten Aufgabe verweigert ihr die Stiefmutter weiterhin die Teilnahme am Ball mit der Begründung, dass Aschenputtel keine geeigneten Kleider habe, und zieht mit ihren leiblichen Töchtern los. Nun eilt Aschenputtel zum Grab der Mutter. Wieder ist es der weiße Vogel, der Aschenputtel ein prächtiges Kleid und mit Seide und Silber bestickte Pantoffeln hinunterwirft.
Aschenputtel legt diese Kleidung an, läuft zum Fest und mischt sich unerkannt unter die Gäste. Der Königssohn verliebt sich in das Mädchen und möchte wissen, wer diese schöne Unbekannte ist – doch zweimal gelingt es Aschenputtel, ihm zu entkommen. Beim dritten Mal verliert sie einen ihrer goldenen Pantoffeln auf der Schlosstreppe, und der Verliebte lässt nach der Jungfrau suchen, der dieser Pantoffel passt, damit er sie als Braut heimführen könne. Er fragt auch Aschenputtels Vater, der jedoch seine eigene Tochter nicht wiedererkannte, obwohl er sich nach jenem Tanzabend fragte, ob es wohl Aschenputtel gewesen sein könnte.
Der Königssohn forscht auch im Haus des Vaters nach. Die beiden Stiefschwestern versuchen vergebens, den zierlichen Schuh über ihre Füße zu ziehen. Auf den Rat der Mutter hin schneidet sich die erste den großen Zeh ab und die zweite die Ferse. Beim Vorbeiritt am Grab wird der Betrug jedoch beide Male durch zwei Tauben vom Haselbäumchen aufgedeckt: „Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuck (Schuh)! Der Schuck ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“
Aschenputtel, der als einzige der Schuh passt, wird schließlich als wahre Braut erkannt.
Im Vergleich zur Urfassung von 1812, die mit dem Erkennen der richtigen Braut endet, erweitern die Brüder Grimm in der Fassung von 1819 das Märchen um Aschenputtels Hochzeit mit dem Prinzen. Dabei erhalten die Stiefschwestern, die Aschenputtel unaufgefordert zur Kirche begleiten, ihre gerechte Strafe, indem ihnen zwei Tauben die Augen auspicken. Über das Schicksal der bösen Stiefmutter wird in keiner Fassung des Märchens berichtet, auch nicht in der Sammlung von Ludwig Bechstein, wo das Märchen in verkürzter Form ohne gravierende Abweichungen zur Fassung der Brüder Grimm wiedergegeben wird.
Cendrillon ist wie bei den Brüdern Grimm, die das Märchen aus mündlichen Erzählungen (recte Adaptionen von Perrault) übernommen und in ihre Sammlung aufgenommen hatten, das gedemütigte Mädchen aus erster Ehe eines Edelmannes. Das Motiv des Grabes und des Haselbäumchens fehlt bei Perrault. Stattdessen ist es eine gute Fee, eine Tante von Cendrillon, die dem schönen Mädchen hilft. Als die Stiefschwestern zum Ball wollen, darf sie Cendrillon, die die Dienste einer niederen Magd verrichten muss, nicht begleiten. In ihrer Not wendet sie sich an ihre Tante, eine zauberkundige Fee. Diese lässt Cendrillon zunächst einen Kürbis holen, den die Tante aushöhlt und mit ihrem Zauberstab in eine Kutsche verwandelt. Dasselbe macht sie mit Mäusen und Ratten aus einer Falle, sowie mit einigen Eidechsen, die sie in Apfelschimmel, einen Kutscher und Lakaien verwandelt. Als die Fee Cendrillon mit ihrem Zauberstab berührt, hat diese prächtige Kleider an. Die Fee gibt ihr auch Glaspantöffelchen (Glasschuhe), in denen Cendrillon zum Ball erscheint. Die Interpretation als Glasschuhe geht aber möglicherweise auf ein Missverständnis zurück. "en vair" im französischen verweist auf das Winterfell des Eichhörnchens während "de verre" Glas bedeutet. Im französischen Wikipedia ist ein diesbezüglicher Artikel über diese Kontroverse zu finden.
Ein entscheidendes und bei Perrault deutlicher herausgearbeitetes Motiv ist, dass Cendrillon vor Mitternacht zurückkehren muss, weil sonst der Zauber vergeht.
Cendrillon gilt als Schönste auf dem Ball und wird auch von den Stiefschwestern nicht erkannt. Am zweiten Ballabend, an dem Cendrillon noch prächtiger herausgeputzt ist, verpasst sie beinahe die Mitternacht, eilt beim ersten Glockenschlag hinaus und verliert dabei einen ihrer Glasschuhe, der sich nicht zurückverwandelt. Nun lässt der Prinz im ganzen Land bekannt geben, dass er nur das Mädchen heiraten will, dem der Schuh passt. Er beauftragt einen Höfling, die Anprobe vorzunehmen. Die beiden Stiefschwestern scheitern bei dem Versuch, während der Schuh Cendrillon passt. Sie zieht nun den zweiten Schuh aus der Tasche. In diesem Moment kommt die Fee hinzu und verwandelt Cendrillons Küchenkittel in die prächtigsten Kleider.
Eine Bestrafung der Stiefschwestern erfolgt nicht, weil ihnen Cendrillon verzeiht. Am Tag von Cendrillons Hochzeit mit dem Prinzen werden auch die Stiefschwestern mit zwei vornehmen Herren vom Hof verheiratet.
Ursprung und Fortentwicklung des Märchens

Wie auch andere Märchen hat Aschenputtel als Archetypus eine lange Geschichte hinter sich. So finden sich die ersten Spuren im alten Ägypten (Rhodopis), dann bei den Römern, im Kaiserreich China des 9. Jahrhunderts (Youyang zazu); in Persien v. a. Ende des 12. Jahrhunderts in den von Nezāmi verfassten Sieben Schönheiten, auch genannt Die sieben Prinzessinnen, finden sich Vorformulierungen des Aschenbrödel-Motivs. Auch bei den nordamerikanischen Ureinwohnern gibt es dieses Märchenmotiv. Nach Ulf Diederichs gibt es nicht weniger als 400 zirkulierende Varianten des Märchens. Die Wirkung und Weitererzählung des Märchenmotivs von Aschenbrödel ist literarisch vielschichtig. Insbesondere in der Literatur der deutschen, englischen, russischen und französischen Romantik und in der Literatur des international Stilgeschichte bestimmenden Symbolismus finden sich zu Aschenputtel– wie zu vielen Märchenmotiven– interessante Kombinationen und Anklänge. Die zentralen Bilder des Märchens sind die Tauben, die Schuhe und in den meisten Varianten auch die Haselnüsse oder der Haselnussbaum. Die Tauben sind seit der griechischen Antike die traditionellen Begleiterinnen Aphrodites. Das Bild der Nuss bzw. der geknackten Nuss gilt als Metapher vollendeter Erkenntnis –diese Bedeutung von dem Bild der Haselnuss wird in der holländischen Stilllebenmalerei mit diesem Erkenntnissinn verbunden.
Reduziert und banalisiert man das Grundmotiv des Märchens auf eine im Leben unglücklich gestellte Heldin, die auf die Liebe eines Prinzen hofft, in Kombination mit einer Moral, dass das Gute immer belohnt wird, so gibt es auch Weiterführungen von Aschenbrödel in der Trivialliteratur, wie etwa bei Marlitt und Hedwig Courths-Mahler.

 

Hänsel und Gretel oder Hasan und Geza

 

Ahmed ist ein einfacher anatolischer Bauer oder was man im Westen dafür hält. Genauer gesagt ist er ein Tagelöhner in Anatolien, der auf Gedeih und Verderben mitsamt seinem einzigen Eigentum, einem altersschwachen Esel von der Gunst oder Missgunst seines Grossonkels abhängt. Als in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr der nach Menschenjahren dreifach so alte Esel unter der immerzu täglichen Last zusammenbricht und das Zeitliche segnet, ist dies die erste Zäsur im Leben des Ahmed. Aus unserer Sicht selbst gesehen ist Ahmed vom Intellekt und von der Persönlichkeitsstruktur her keinesfalls der Unterschicht der Erdenbevölkerung zuzurechnen. Nur die Umstände seiner sozialen und familiären Situation machen ihn im Ostern Anatoliens zu einem Unterprivilegierten. Seine Mutter, früh Witwe geworden, hat ihn trotz aller widrigen Umstände zu einem, in dieser an äusserst harte Überlebensbedingungen gewöhnten archaischen Gesellschaft, eine von Tradition und Dogmen relativ unbeeinflusste Gesinnung mit auf den Lebensweg gegeben. Trotzdem ist in Ahmeds Leben die ihm von seinem Umfeld aufoktroyierte, fatalistische Züge tragende, Ergebenheit in die von Gott oder besser gesagt von gottähnlich mächtigen Menschen gewollten Zuständen nicht verkennbar. Die angesprochene erste große Zäsur in Ahmeds Leben, die mit dem Tod seines einzigen Eigentums, des altersschwachen Esels beginnt, führt dazu, dass der für Ahmeds Sippe Alles bestimmende Großonkel unseren Ahmed von einem zu dieser Zeit Arbeitskraft einkaufenden Händler der Bundesrepublik Deutschland wie seinen verblichenen Esel auf Tauglichkeit für einen sippengewinnbringenden Job testen lässt. So wird Ahmed wie ein Nutztier begutachtet. Das Gebiss ist in Ordnung, keine Gebrechen erkennbar, Muskelmasse und körperliche Konstitution deuten auf höchste Performance im Rahmen der gewünschten Einsetzbarkeit hin. Damit ist der Kontrakt oder besser gesagt der Verkauf der Arbeitsware Ahmed an einen beliebigen Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland gesichert.

 

So kommt Ahmed in die große Stadt Berlin, schleppt fortan, ohne zu klagen , Tag für Tag Säcke mit Chemikalien von der Laderampe in die große Fabrikhalle, wohnt zusammen mit vielen seiner Schicksalsgenossen in einer alten Hinterhofbruchbude in Neukölln und schickt regelmäßig am Monatsersten einen Teil seines kargen Verdienstes zu seinem Großonkel nach Anatolien, um einerseits seine Schulden dort abzutragen, andererseits den Lebensunterhalt für seine alte Mutter zu sichern. Nach vier Jahren harter Arbeit in der Fremde ist Ahmed bei seinen Landsleuten, wie auch bei seinen deutschen Arbeitskollegen beliebt. Im Gegensatz zu vielen Kontraktarbeitern hat Ahmed sich bemüht die fremde Sprache zu erlernen und sich mit den Sitten und Gebräuchen seines Gastlandes vertraut zu machen, ohne seine Herkunft und seine Traditionen zu vergessen.

 

Von seinem Verdienst hat er jeden Monat etwas beiseite gelegt, weil er eines Tages seine, ihm schon in Kindertagen versprochene Großcousine Aischa nach Deutschland nachkommen lassen will.

 

Das tapfere Schneiderlein

 

Die Hauptfigur ist ein armer Schneider, der am Anfang der Geschichte beim Essen von Pflaumenmus von Fliegen gestört wird. Wütend schlägt er mit einem Tuchlappen auf die Tiere ein und tötet alle Sieben. Begeistert von seiner Tat, stickt er die Worte „Sieben auf einen Streich“ auf einen Gürtel und geht in die Welt hinaus, dass es jeder erfahre. Es wird jedoch missverstanden, und man hält den Schneider für einen Kriegshelden, der sieben Männer auf einen Schlag getötet habe.
Davon hört auch der König, der prompt Angst vor dem Helden der Geschichte bekommt. Er lässt diesen zu sich kommen und verspricht ihm die Hand seiner Tochter, wenn er ihn von zwei grausamen Riesen befreit, die sein Land verwüsten. Insgeheim aber verfolgt der König damit die Absicht, den gefährlichen Schneider loszuwerden, indem er fest damit rechnet, dass dieser im Kampf mit den Ungeheuern umkommt.
Unser Held findet bald die beiden Plünderer. Zum Glück schlafen sie, und der Schneider hat auch schon eine Idee. Er klettert in den Baum, unter dem die Riesen liegen, und wirft einen Tannenzapfen auf den ersten. Dieser wacht auf und hält seinen Freund für den Schuldigen. Er weckt ihn auf, aber der Schläfer bestreitet die Tat. Als beide wieder eingeschlummert sind, trifft der Schneider den zweiten. Zum zweiten Mal wird dieser geweckt, wütend und beginnt, auf seinen Freund einzuschlagen. Bald ist eine Prügelei im Gange, die eine volle Viertelstunde dauert. Nachdem die Riesen alle Differenzen beigelegt haben und nun wieder schlafen, wirft der listige Schneider jeweils einen Tannenzapfen auf beide. Die streitlustigen Riesen wachen auf, sehen sich an und schlagen solange aufeinander ein, bis beide tot sind.
Ab hier gibt es zwei Versionen. In der einen akzeptiert der König die Tat und ernennt den Schneider direkt zum König. In der anderen, traditionelleren Version, akzeptiert der Herrscher die Heldentat nicht und schickt den Helden erneut los, um das Einhorn zu fangen, das das Land durchstreift. Auch hier zeigt sich der Einfallsreichtum des Schneiders, denn als er das wilde Tier zum Kampf herausfordert und jenes mit dem Horn voran angreift, springt er zur Seite und lässt das Einhorn in einen Baum rammen. Als er ihm das Horn abbricht, wird es lammfromm und kann zum König geführt werden.
Dieser jedoch fordert eine weitere Probe seines Könnens, nämlich dass ein schreckliches Wildschwein lebend gefangen wird. Auch hier bleibt der Nadelschwinger souverän: Er lässt das Ungeheuer in eine verlassene Kirche rennen und sperrt es anschließend dort ein.
Die Moral von der Geschichte ist, dass auch der Schwache, wenn er nur selbstbewusst und einfallsreich ist, Großes erreichen kann.

 

Schneewittchen und die sieben Zwerge

 

An einem Wintertag sitzt eine Königin am Fenster, das einen schwarzen Rahmen aus Ebenholz hat, und näht. Versehentlich sticht sie sich mit der Nähnadel in den Finger. Als sie drei Blutstropfen in den Schnee fallen sieht, denkt sie: „Hätt’ ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!“ Ihr Wunsch erfüllt sich, und sie bekommt eine Tochter, die Schneewittchen genannt wird, weil sie helle Haut, rote Wangen und schwarze Haare hat.
Nach der Geburt stirbt die Königin, und der König nimmt sich eine neue Gemahlin. Diese ist sehr schön, aber eitel und böse. Sie kann es nicht ertragen, an Schönheit übertroffen zu werden. Als Schneewittchen sieben Jahre alt ist, nennt ihr sprechender und allwissender Spiegel Schneewittchen und nicht sie die Schönste im ganzen Land. Von Neid geplagt beauftragt sie einen Jäger, ihre Stieftochter im Wald umzubringen und ihr zum Beweis deren Lunge und Leber zu bringen. Doch der Mann lässt das flehende Mädchen laufen und bringt der Königin Lunge und Leber eines Frischlings, die diese im Glauben, es seien Schneewittchens, kochen lässt und verspeist.
Schneewittchen flüchtet durch den Wald. Es kommt zu einem Häuschen, in dem ein Tisch für sieben Personen gedeckt ist, und nimmt sich von jedem Platz ein wenig zu essen und zu trinken. Dann probiert es die Betten aus, bis es ein passendes gefunden hat, und schläft ein. Als es dunkel ist, kommen die Hausbewohner, sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz gegraben haben, heim. Sie bemerken erstaunt, dass jemand ihre Sachen angerührt hat. Im Bett des siebten Zwerges finden sie das schlafende Kind und sind hingerissen von dessen Schönheit. Am nächsten Morgen erklärt Schneewittchen ihnen seine Lage, und es darf im Haus wohnen bleiben, wenn es die Hausarbeiten verrichtet. Schneewittchen willigt ein und ist nun tagsüber immer alleine, weswegen die Zwerge das Mädchen vor der Stiefmutter warnen und es ermahnen, niemanden hereinzulassen.
Währenddessen befragt die böse Königin ihren Spiegel ein weiteres Mal nach der schönsten Frau im Königreich. Er verrät ihr, dass Schneewittchen noch am Leben ist und sich hinter den sieben Bergen im Haus der sieben Zwerge versteckt.
Dreimal verkleidet sich nun die Königin als Händlerin und bietet dem Mädchen unerkannt Waren an, mittels derer sie ihm das Leben nehmen will: Einen Schnürriemen (Mieder) zurrt sie so eng, dass Schneewittchen zu ersticken droht, einen Haarkamm und schließlich die rote Hälfte eines Apfels präpariert sie mit Gift. Jedes Mal lässt sich Schneewittchen täuschen und von den schönen Dingen betören, so dass es sie annimmt und wie tot hinfällt. Die ersten beiden Male können die Zwerge Schneewittchen ins Leben zurückholen, indem sie Riemen und Kamm entfernen. Beim dritten Mal finden sie die Ursache nicht und halten es für tot.
Weil es so schön ist, legen sie es in einen gläsernen, mit Schneewittchens Namen und Titel beschrifteten Sarg, in dem es aussieht, als schliefe es nur. Sie stellen den Sarg auf einen Berg, wo auch die Tiere des Waldes das Mädchen betrauern und es immer einer der Zwerge bewacht. Die böse Königin erhält von ihrem Spiegel die Auskunft, dass nun sie die Schönste sei.

 

Schneewittchens Erlösung und der Tod der Königin
Schneewittchen liegt sehr lange Zeit in dem Sarg und bleibt schön wie eh und je. Eines Tages reitet ein Königssohn vorüber und verliebt sich in die scheinbar tote Prinzessin. Er bittet die Zwerge, ihm den Sarg mit der schönen Königstochter zu überlassen, da er nicht mehr ohne ihren Anblick leben könne. Aus Mitleid geben die Zwerge ihm schweren Herzens Schneewittchen, doch als der Sarg auf sein Schloss getragen wird, stolpert einer der Diener, und der Sarg fällt zu Boden. Durch den Aufprall rutscht das giftige Apfelstück aus Schneewittchens Hals. Sie erwacht, und der Prinz und Schneewittchen halten Hochzeit, zu der auch die böse Königin eingeladen wird. Voller Neugier, wer denn die junge Königin sei, von deren Schönheit ihr der Spiegel berichtet hat, erscheint sie, erkennt Schneewittchen und muss zur Strafe für ihre Taten in rotglühenden Eisenpantoffeln solange tanzen, bis sie tot zusammenbricht.
entrale Motive von Schneewittchen sind der vergiftete Apfel, die Zahl Sieben, der Spiegel, Gürtel und Kamm, die kontrastierenden Farben Schwarz, Rot und Weiß, das Blut und der Winter. Das Motiv des todesähnlichen Schlafes findet sich auch im Grimm´schen Dornröschen.

 

Das Lumpengesindel oder die soziale Ungerechtigkeit

 

Hähnchen sprach zu Hühnchen: "Jetzt ist die Zeit, wo die Nüsse reif werden, da wollen wir zusammen auf den Berg gehen und uns einmal recht satt essen, ehe sie das Eichhorn alle wegholt." - "Ja," antwortete das Hühnchen, "komm, wir wollen uns eine Lust miteinander machen." Da gingen sie zusammen fort auf den Berg, und weil es ein heller Tag war, blieben sie bis zum Abend. Nun weiß ich nicht, ob sie sich so dick gegessen hatten, oder ob sie übermütig geworden waren, kurz, sie wollten nicht zu Fuß nach Haus gehen, und das Hähnchen musste einen kleinen Wagen von Nussschalen bauen. Als er fertig war, setzte sich Hühnchen hinein und sagte zum Hähnchen: "Du kannst dich nur immer vorspannen." - "Du kommst mir recht," sagte das Hähnchen, "lieber geh ich zu Fuß nach Haus, als dass ich mich vorspannen lasse. Nein, so haben wir nicht gewettet. Kutscher will ich wohl sein und auf dem Bock sitzen, aber selbst ziehen, das tu ich nicht."
Wie sie so stritten, schnatterte eine Ente daher: "Ihr Diebesvolk, wer hat euch geheißen, in meinen Nussberg zu gehen? Wartet, das soll euch schlecht bekommen!" Ging also mit aufgesperrtem Schnabel auf das Hähnchen los. Aber Hähnchen war auch nicht faul und stieg der Ente tüchtig zu Leib, endlich hackte es mit seinen Sporn so gewaltig auf sie los, dass sie um Gnade bat und sich gern zur Strafe vor den Wagen spannen ließ. Hähnchen setzte sich nun auf den Bock und war Kutscher, und darauf ging es in einem Jagen: "Ente, lauf zu, was du kannst!" Als sie ein Stück Weges gefahren waren, begegneten sie zwei Fußgängern, einer Stecknadel und einer Nähnadel. Sie riefen: "Halt halt!" und sagten, es würde gleich stichdunkel werden, da könnten sie keinen Schritt weiter, auch wäre es so schmutzig auf der Straße, ob sie nicht ein wenig einsitzen könnten, sie wären auf der Schneiderherberge vor dem Tore gewesen und hätten sich beim Bier verspätet. Hähnchen, da es magere Leute waren, die nicht viel Platz einnahmen, ließ sie beide einsteigen, doch mussten sie versprechen, ihm und seinem Hühnchen nicht auf die Füße zu treten. Spät abends kamen sie zu einem Wirtshaus, und weil sie die Nacht nicht weiterfahren wollten, die Ente auch nicht gut zu Fuß war und von einer Seite auf die andere fiel, so kehrten sie ein. Der Wirt machte anfangs viel Einwendungen, sein Haus wäre schon voll, gedachte auch wohl, es möchte keine vornehme Herrschaft sein, endlich aber, da sie süße Reden führten, er solle das Ei haben, welches das Hühnchen unterwegs gelegt hatte, auch die Ente behalten, die alle Tage eins legte, so sagte er endlich, sie möchten die Nacht über bleiben. Nun ließen sie wieder frisch auftragen und lebten in Saus und Braus. Frühmorgens, als es dämmerte und noch alles schlief, weckte Hähnchen das Hühnchen, holte das Ei, pickte es auf, und sie verzehrten es zusammen; die Schalen aber warfen sie auf den Feuerherd. Dann gingen sie zu der Nähnadel, die noch schlief, packten sie beim Kopf und steckten sie in das Sesselkissen des Wirts, die Stecknadel aber in sein Handtuch, endlich flogen sie, mir nichts, dir nichts, über die Heide voran. Die Ente, die gern unter freiem Himmel schlief und im Hof geblieben war, hörte sie fortschnurren, machte sich munter und fand einen Bach, auf dem sie hinabschwamm; und das ging geschwinder als vor dem Wagen. Ein paar Stunden später machte sich erst der Wirt aus den Federn, wusch sich und wollte sich am Handtuch abtrocknen, da fuhr ihm die Stecknadel über das Gesicht und machte ihm einen roten Strich von einem Ohr zum andern. Dann ging er in die Küche und wollte sich eine Pfeife anstecken. Wie er aber an den Herd kam, sprangen ihm die Eierschalen in die Augen. "Heute morgen will mir alles an meinen Kopf," sagte er, und ließ sich verdrießlich auf seinen Großvaterstuhl nieder; aber geschwind fuhr er wieder in die Höhe und schrie: "Auweh!" Denn die Nähnadel hatte ihn noch schlimmer und nicht in den Kopf gestochen. Nun war er vollends böse und hatte Verdacht auf die Gäste, die so spät gestern Abend gekommen waren. Und wie er ging und sich nach ihnen umsah, waren sie fort. Da tat er einen Schwur, kein Lumpengesindel mehr in sein Haus zu nehmen, das viel verzehrt, nichts bezahlt und zum Dank noch obendrein Schabernack treibt.