Wir schreiben den siebenundzwanzigsten September 2009, 10 Tage nach meinem 68. Geburtstag. Die Bundestagswahl ist so ausgegangen, wie von den großen Auguren der Meinungsforschungsinstitute vorausgesagt. Doch das geht mir sprichwörtlich gesagt an der Backe vorbei. Was mich wirklich bewegt ist ein ganz anderes Problem, tiefschichtiger auch möglicherweise bedeutender als eine Wahl für den Bundestag der Deutschen Republik. Es ist das Problem der verschwundenen Milchstraße.
An diesem doch recht kühlen Herbstabend sitze ich auf unserer Terrasse im Süden von Berlin, schaue nach oben und sehe nur wenige Sterne, die sich gegen das widerspiegelnde Lichtermeer der Großstadt am Abendhimmel durchsetzen können. Das Sternenband aus meiner Jugendzeit ist jedoch nicht mehr zu erkennen. Sie ist einfach weg, spurlos verschwunden, nicht mehr zu sehen – die Milchstraße meine ich. Stattdessen schwenken ruhelos drei Lichtfinger aus den Megascheinwerfern einer Show auf dem geschlossenen Flugfeld in Tempelhof von Ost nach West über den Himmel, werden von wenigen Wolken dramatisch verstärkt und es erscheint mir so, als suchten sie etwas am Himmel, vielleicht die verschwundene Milchstraße? Dabei kommt mir erst jetzt zu Bewusstsein, dass die Milchstraße nicht so von heute auf Morgen verschwunden ist. Nein, sie wurde von Jahr zu Jahr blasser, verlor ihre vorher so klaren Konturen und, je mehr ich die ländliche Umgebung meiner Kindheit verließ, hat sie sich in dem nächtlichen Lichterglanz der Städte dann irgendwann in den letzten Jahren in Nichts aufgelöst. Keinesfalls kann ich behaupten, ich sei nicht schon vor Jahren vorgewarnt worden, ich habe diese Warnung, wie so viele andere nicht ernst genommen, einfach nicht glauben wollen. Vielleicht ist es gut sich an den Anfang dieser absonderlichen Geschichte zu erinnern, um möglicherweise weitere ähnliche Verluste dieser Art in Zukunft zu vermeiden.
Die Gote, so wird sie in meiner Kindheit nur von uns drei Buben genannt, kommt aus einer anderen Welt als der unsrigen und ist uns Kindern trotzdem in ihrer Art sich zu geben näher als viele unserer Nächsten.
Ich liebe vor Allem ihre Art, wie sie mit mir redet. Nie weiß ich genau, ob sie überhaupt zu mir redet oder ob es nur Selbstgespräche sind, an denen sie mich einfach teilhaben lässt. Dies ist an sich schon faszinierend, weil es mir wie eine Offenbarung ihrer Gedanken und Gefühle vorkommt und trotzdem irgendwie an mich persönlich gerichtet, auf mich bezogen scheint.
Die Gote ist die einzige „Dame von Welt“, die wir Kinder kennen. Sie ist von wohlbeleibter Statur, immer perfekt gekleidet, makellos geschminkt, hat eine Vorliebe für Bernsteinketten und Broschen sowie für Ringe mit blauen Steinen jeglicher Art. Ihr Parfüm ist dezent, für uns Kinder aber umwerfend, weil mehr als ungewohnt. Wie sie selbst von sich sagt, stammt sie aus gutsituiertem Haus, ist gesegnet mit einem wohlhabenden, jedoch früh verstorbenen Mann der ihr eine bescheidene Villa und ein auskömmliches Einkommen sowie einen Sohn hinterlassen hat, der nach ihrer Meinung zu sehr nach dem Vater kommt, weil er eine genauso trockene, humorlose und klein karierte Beamtenseele habe wie der Verstorbene.
Wenn sie zu uns zu Besuch kommt hat sie für jeden ein passendes Geschenk, was uns Kinder natürlich am Meisten freut. Die Erwachsenen begegnen der Gote mit Hochachtung, teilweise sogar mit einer gewissen Ehrfurcht. Das liegt wohl daran, dass, wie unsere Großmutter behauptet, die Gote über „die Gabe des zweiten Gesichts“ verfügt.
Großmutter und die Gote gehören der gleichen Generation an, haben in etwa die gleiche Statur, sind aber im Erscheinungsbild unterschiedlicher, als man nicht sein kann. Während Großmutter in ihrer indigoblauen Kittelschürze immer nach Küche und Kernseife riechend, ihre bäuerliche Herkunft und die harte Arbeit, die deutlich sichtbare Spuren im Gesicht und an den Händen hinterlassen haben, nicht verleugnen kann, ist die Gote eine modisch aber nie zu modern gekleidete, stets dezent geschminkte und nach einem Hauch Lavendel oder Eau de Cologne duftende damenhafte Erscheinung. Trotzdem verstehen sich die Beiden mehr als gut, achten sich gegenseitig hoch und teilen, wenn die Gote bei uns übernachtet, sogar das Ehebett in Großmutters Zimmer. Beide haben das Schicksal der frühen Witwenschaft gemeinsam. Während die Gote jedoch in dieser Witwenschaft allzeit in finanziell gut abgesicherten Verhältnissen lebte, musste Großmutter mit einer nie zum Leben ausreichenden bescheidenen Pension sowohl das Häuschen als auch ihre beiden Kinder und später noch ihre vaterlosen Enkel hochziehen. Beiden gemein sind die Hochachtung vor der Natur und allem Lebendigen sowie eine tiefe Spiritualität, die sich jedoch entsprechend ihrer Herkunft und fast spiegelbildlich zu ihrer gesamten körperlichen Erscheinung sehr unterschiedlich darstellt. Großmutter ist mehr dem praktischen Leben zugewandt, ihr protestantischer fast puritanischer Gottesglauben gibt ihr den unerschütterlichen Halt alltäglich die Mühen dieses Lebens zu überstehen. Die Gote hingegen ist freigeistiger, eher Anhängerin einer Naturreligion. Heute würde sie wahrscheinlich den Esoterikern angehören oder einer Form des europäisch geprägten Buddhismus zuneigen. Beiden gemeinsam ist jedoch der Glaube an unerklärliche Kräfte, die sich bei einigen wenigen Menschen aus ihren Sippen immer wieder dokumentieren.
In der Verwandtschaft meiner Großmutter mütterlicherseits manifestieren sich diese Kräfte in den okkulten Bereichen des Heilens durch „Besprechen“ von Leiden oder „Handauflegen“, die gleichzeitig mit einer keineswegs okkulten Kenntnis der Wirkung von Pflanzen, natürlichen organischen und anorganischen Stoffen sowie manueller Heilbehandlungen verbunden sind. Hingegen treten bei der Gote, die zur Sippe meines Großvaters väterlicherseits gehört, wie auch bei deren Vorfahren mehr übersinnliche Kräfte in Erscheinung wie Wahrsagungen, Handlesen und das Erkennen seelischer und geistiger Konflikte.
Die Gote selbst hat nach der unwidersprochenen Meinung meiner Großmutter, wie schon erwähnt die Gabe des „Zweiten Gesichts“ von ihrer Tante geerbt.
Viele der Prophezeiungen der Gote vergesse ich, weil sie mir kleinem Jungen wie Erzählgeschichten vorkommen, andere wiederum, weil sie Dinge betreffen, die zwar tatsächlich früher oder auch sehr viel später geschehen, jedoch nicht unbedingt für mich persönlich eine größere Rolle spielen und der größere Teil weil er so oder so für mich unausweichliche und unabänderliche Vorkommnisse darstellen, die meine Gote, wie viele andere Dinge halt vorhersieht. Zwei dieser Prophezeiungen habe ich jedoch nicht vergessen.
Wie immer im Herbst hat mich kleinen Jungen das Fieber gepackt. Die Gote sitzt an meinem Bett, kühlt meinen heißen Kopf mit einem feuchten Tuch und spricht wie immer vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu mir:
„Tante Änni hat schon Recht. Der Junge ist zwar anfällig auf der Lunge, wie sein Großvater mütterlicherseits. Der ist ja am Lungenfieber früh gestorben. Aber der Junge lässt sich nicht klein kriegen, er gibt nie auf, das hat er wohl vom Großvater väterlicherseits, ein fürwahr zäher Krüppel, wenn mich einer fragt. Ach Wölfchen, was soll bloß aus dir werden? Ich fürchte fast, du wirst es zeitlebens selbst nie genau wissen. Die Nornen haben dir zu viele und zudem noch widerstreitende Talente in den Becher deines Lebens getan. So wirst du immer wieder etwas Neues anfangen, ein Talent nach dem anderen ausprobieren um festzustellen, dass doch Alles allerhöchstens Mittelmaß ist und keinesfalls deinen Ansprüchen an dich selbst genügt. Du wirst immer innerlich zerrissen sein, nie mit dir selbst zufrieden. Vielleicht gelingt es dir im Alter zu deiner eigentlichen Bestimmung zu finden. Ich sehe nur verschwommen, dass die Erzählkunst deiner Patentante Anna sich durchsetzen wird gegen handwerkliche und kunsthandwerkliche Talente. Im Laufe deines Lebens wird dir gar nichts geschenkt werden und du wirst viele deiner Fähigkeiten unnütz vergeuden. So wie die Gote mir vorausgesagt hat ist es mir wohl in meinem späteren Leben ergangen. Viel zu Vieles habe ich ausprobiert und viel zu Wenig ist mir davon gelungen. Nur ein wenig Schreibkunst mag ich heute noch betreiben, vielleicht auch hier und da ein wenig Hobbymalerei.
Doch zurück zu der zweiten Prophezeiung, die mir heute am letzten Abschnitt meines Lebens viel bedeutender erscheint:
Es ist ein lauer Sommerabend. In den Sommerferien dürfen wir Kinder bis Einbruch der Dunkelheit draußen bleiben. Die beiden Älteren haben sich mit ihren Freunden zum Fußballspielen verabredet. Da sie den Kleinen, wie sie mich scherzhaft nennen, nicht dabei gebrauchen können, bin ich zum Bienenhaus hinaufgestiegen, sitze neben der Gote auf der Bank und schaue mit ihr den langsam auffunkelnden Sternen zu. Später, als das bleiche Mondgesicht im Osten heraufkommt hat sich Großmutter dazugesellt; allem Anschein nach um mich daran zu erinnern, dass mit Einbruch der Dunkelheit nicht nur die Hühner auf ihre Schlafstangen zu gehen haben, sondern auch die kleinen Buben unter ihre Schlafdecken kriechen sollten. Als sie jedoch den abwesenden Blick von Gote sieht, die schützend ihren Arm um mich legt, so als wolle sie ausdrücken, dass sie mich jetzt noch nicht gehen lassen könne, bleibt Großmutter still sitzen und hört dem Geraune der Gote zu. Wie so oft redet Gote, mehr mit sich selbst und doch uns zugewandt:
„Vor endlos langer Zeit hat sich Mutter Erde mit Vater Sonne vermählt. Damit ging eine dunkle finstere Erdenzeit zu Ende. Von da an kämpften Vater Sonne und Mutter Erde in einem immerwährenden Kreislauf gegen den Fürsten der Kälte und Finsternis. Im ersten Frühjahr, als sie nach langem Winter den Fürsten in den hohen Norden vertrieben hatten, wurde ihnen ein Sohn geboren. Dieser folgt seitdem seinem tagleuchtenden Vater in der dunklen Nacht nach, um diese ein wenig zu erhellen und um die von nun an beständig folgenden Jahreszeiten vorzugeben. Danach gebar Mutter Erde in jedem Frühjahr, wenn sie zusammen mit Vater Sonne und ihrem Erstgeborenen die dunkle Macht des Winters besiegt hatte, die Kinder der Erde, Pflanzen und Tiere und zuletzt auch uns Menschen. Doch den Kindern der Erde ist es nicht vergönnt ewig auf der Erde zu leben. Deshalb schickt Mutter Erde ihre toten Erdenkinder zu ihrem Erstgeborenen in den Himmel, wo sie den lebenden Erdenkindern zum Trost in der Nacht als Sterne funkeln und ihnen den Weg durch ihr Erdenleben zeigen sollen. Da aber die Sternenkinder immer noch des Trostes bedürfen gibt Mutter Erde ihnen die Milchstraße. Die Milchstraße ist das Band, das Alles umfassend, Sonne Mond und Sterne wie auch uns Erdenkinder beschützt vor der großen tiefen Dunkelheit des unendlichen Alls.“
Die Gote nimmt beim letzten Satz die Hand von meiner Schulter und deutet nach oben zum jetzt sternenfunkelnden, nachtblauen Himmel der vom milchig weißen Band der Milchstraße gleichsam zusammengehalten wurde. Großmutter schüttelt mit einem tiefen Seufzer den Zauber der vorausgegangenen Worte ab, erhebt sich schwerfällig von der Bank und sagt: „Dies ist wahrhaft ein gutes Gleichnis für den Lauf des Lebens. Doch ich muss jetzt ins Bett. Der Tag war lang. Bleibt nicht zu lange auf“, und zum Abschluss: „Gote, setz dem Bub nicht zu viele Flausen in den Kopf, er hat schon genug davon“. Dann strebte sie ruhig und bedächtig dem Hause zu, dabei ab und an den Kopf schüttelnd um dann kurz den Blick von der Erde zum Sternenhimmel zu richten.
„Mein Junge“, sagt die Gote, indem sie ihren Arm wieder um meine Schulter legt und ihr Gesicht mir direkt zuwendet, „Mein lieber Junge, die Milchstraße ist das Band unserer Träume, das uns mit allen Wesen dieser Erde verbindet. Wenn wir die Träume unserer Jugend vergessen, dann verblasst dieses Band, es wird immer schwächer, bis es irgendwann ganz verschwindet. Zurück bleibt nur Asche in unseren Herzen und Staub auf unserer Erde. Wir Menschen sollen uns zwar die Erde untertan machen, aber wir müssen vorsichtig sein, dass wir sie nicht zerstören. Denk immer daran, dass wir Kinder dieser Erde sind, wie alle Geschöpfe dieser Erde. Bewahre dir die Träume deiner Jugend, ließ der Dichter Schiller seinen Don Carlos sagen. Wie Mutter Erde den Sternenkindern das Band am Himmel als Trost schenkt, so schenkt sie uns unsere Träume von einer besseren Welt. Ohne dieses Band und ohne diese Träume sind wir Erdenkinder in der Dunkelheit und Kälte des Alls auf immer verloren“. Gote nimmt danach meine Hand, steht auf und wir beide gehen still durch die Nacht zum Haus.
Meine Großmütter mütterlicherseits hieß Katharina und war eine stattliche gottesfürchtige Frau. In meiner Erinnerung sehe ich sie heute noch vor dem großen Küchenherd. Das grausilberne Haar streng in der Mitte gescheitelt, am Hinterkopf das Haar in einem Knoten zusammengefasst, steht sie, leicht vornüber gebeugt, mit umgebundener blauer Leinenschürze, auf stämmigen Beinen vor der geöffneten Feuertür. Die Glut aus dem Ofenloch lässt ihre vollen Bäckchen wie erntereife Äpfel rot aufleuchten. Mit ruhiger, bedachter Hand ordnet sie mit dem Schürhaken die Glut und schiebt dann eins nach dem anderen neue Holzscheite nach. Dann schließt sie mit resoluter Hand das Feuertürchen, richtet sich mit eher nach Befriedigung als nach Schmerz klingendem Seufzer wieder kerzengerade auf, dreht sich zum Küchentisch um, an den sie mit zwei kurzen Schritten herantritt und nimmt die zuvor unterbrochene Arbeit des Teigrührens wieder auf. Das ruhige aber stete Wirken in Küche und Keller, Wiese und Garten, wie auch im Stall war zu ihrer zweiten Gewohnheit geworden. Als ihre erste und liebste Gewohnheit möchte ich ihr Morgen- und Abendgebet sowie das Studieren der täglichen Losung und der Bibelzitate von den Blättern eines Abreißkalenders bezeichnen, der in der Küche aufgehängt, jedes Jahr in seinem Kopfteil die Darstellung der betenden Hände von Dürer aufwies. Während Großmutter den lieben langen Tag für uns Kinder, unsere Fragen und ausgefallenen Wünsche ansprechbar war, wurde sie abends in ihrer liebsten Beschäftigung nur ungern gestört. Für unsere Großmutter galt im übertragenen Sinne der Satz: „Ein Mann, ein Wort“. Öfter als ihr lieb war, musste sie sehnsüchtig vorgetragenen Wünsche abschlägig bescheiden, sei es wegen der begrenzten Zeit, die ihr eigenes Tagwerk ihr ließ, sei es wegen fehlender finanzieller und anderer Möglichkeiten. Immer jedoch hat sie dies uns Kindern mit ruhigen verständlichen Worten erklärt, sodass wir uns nie zurückgesetzt oder gar verraten fühlten. Da es keine erwachsenen Männer im Hause gab, und die Mütter von uns drei Buben oft außer Haus beschäftigt waren, hatte die Großmutter, ob sie dies nun wollte oder nicht, die Rolle der bei Bedarf auch strafenden Erzieherin mit übernommen. Mehr als einmal war der überschäumende Tatendrang des Trios nur mit harter Hand zu bändigen. Nicht dass Großmutter Schläge als Erziehungsmittel an sich angesehen hat. Sie meinte nur, ab und zu könnten ein paar Schläge nicht schaden und zur Erziehung der Buben zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft sogar hilfreich sein. Zwei Vorfälle dieser Art der Bestrafung sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Dies nicht, weil die Schläge so furchtbar geschmerzt hätten, sondern vielmehr, weil diese Vorfälle auch und insbesondere den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn meiner Großmutter belegen. Günter, mein Cousin und der Älteste in unserem Bubentrio hatte sich auf der Kirmes ein Los gekauft und prompt gewonnen. Doch oh Schreck, der Gewinn bestand keinesfalls aus einem Spielzeug, einem Fußball oder dergleichen. Gewonnen hatte Günter eine „Klopppeitsche“ oder auch „Neunschwänzige“, so genannt nach neun Lederriemen, jeweils ellenlang, die mit Polsterernägeln rundum auf einen soliden Holzgriff genagelt waren. Günter, der sich daraufhin in einen Sklaventreiber verwandelte, konnte es nicht lassen, den beiden Cousins mit einigen Schlägen über deren nackten Arme und Beine, seine durch die Neuerwerbung zustande gekommene Überlegenheit vorzuführen. Nachdem mein Bruder und ich die blutroten Striemen der gewaltsamen Unterdrückung und Sklaverei beklagt hatten, beschlossen wir, uns in die Obhut der Großmutter zu flüchten, weil Günter, der Tyrann, in seinem Blutrausch uns, im Falle einer Verweigerung der Unterwerfung unter seine auf die Peitsche gegründete Herrschaft, schlimme Strafen angedroht hatte. Die resolute Großmutter jedoch, kaum des peitsche schwingenden Tyrannen ansichtig, entwand diesem mit beherztem Griff das Instrument seiner Machtausübung. Was nun zwangsläufig kommen musste, schien dem vorzeitig aufjaulenden Günter schon im Voraus klar zu sein. Mit zwei kurzen knappen Schwüngen ließ Großmutter ihrerseits die Lederriemen einmal auf die rechte und einmal auf die linke lederhosenbewehrte Hinterbacken des Übeltäters herab sausen. Dabei zitierte sie, leise vor sich hinmurmelnd: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es im Alten Testament geschrieben“, und danach, als wolle sie ihre Worte und die beiden Schläge zwar nicht zurücknehmen, jedoch etwas abmildern: „So gehet hin und vergebet einander die Sünden, die ihr euch gegenseitig angetan, so ist es im Neuen Testament geschrieben“. Danach nahm sie uns drei Buben nacheinander in den Arm, dann alle an die Hand und schritt, nachdem sie die Peitsche im Küchenschrank weggeschlossen hatte, mit uns zum Kirmesplatz, wo sie von ihrem kärglichen Taschengeld jedem von uns eine große Portion seines Lieblingsnaschwerks kaufte. Eigentlich wäre die Geschichte hier zu Ende, hätten die drei Buben die beiden Bibelzitate der Großmutter tatsächlich verinnerlicht. So jedoch entschlossen sie sich, in der Annahme, die Peitsche sei von der Großmutter für zukünftige Strafaktionen konfisziert worden, zu einer verwegenen Verzweiflungstat. In der Waschküche des Hauses liehen sich die drei Buben das Fleischerbeil aus. Dann wurde die „Neunschwänzige“ wieder zurück „stibitzt“ und auf dem Hackklotz am Bienenhaus hauchten die Lederriemen, Stück für Stück in kleine Abschnitte zerhackt, ihre Zweckbestimmung und Brauchbarkeit aus. Zuletzt blieben die kläglichen Überreste und der Holzgriff unbeachtet am Fuße des Hackklotzes liegen. Keiner der Dreien traute sich, die Überreste des schändlichen Treibens endgültig zu beseitigen. Am nächsten Morgen wurde Großmutter beim Anfertigen von Spänen zum Anzünden des Herdes der Frevel offenbar. Nach Befragung und Feststellung der Missetäter begann Großmutter die versuchte Untergrabung ihrer Autorität auf der Stelle zu ahnden. Als Ersatz für die Neunschwänzige entschloss sie sich, die Kehrseite des Handfegers zu benützen, in der richtigen Annahme, dass die Missetäter sich an diesem geheiligten und nützlichen Hausreinigungsinstrument niemals vergreifen würden. Diesmal bekamen wir, in der Reihenfolge unseres Alters und ihren Feststellungen zur individuellen Schuld an der Freveltat, die Rückseite des Handfegers auf unseren Sitzflächen zu spüren. Die nachhaltige Erinnerung an diese einmalige, doppelte Strafaktion erübrigte in der Folgezeit viele handgreiflichen Strafen, da bereits die wörtliche Erinnerung daran in Verbindung mit einer Abmahnung: „Ihr wisst doch“ ...mit einem Seitenblick zum neben dem Herd geparkten Handfeger... „Sonst ...“ genügend Wirkung zeigte. Günter und Herbert, die Älteren, hatten herausgefunden, dass, wenn die Großmutter eine Strafaktion gegen alle drei Buben durchzuführen hatte, der erste, den sie erwischte, sowohl an Worten, als auch an Schlägen, weitaus mehr abbekam, als die nachfolgenden Beiden. So hatten sich Günther und Herbert in stillschweigender Übereinkunft zur Gewohnheit gemacht, bei erkennbarem Großmuttergewitter in der Luft, mich, als den Kleinsten und Unerfahrensten in solchen Dingen, vorauszuschicken, um in Ruhe abzuwarten und zu horchen, ob und, wenn ja, welche Donnerschläge über mein kleines Haupt hernieder gingen, um danach, wenn Großmutter sich an mir weitestgehend verausgabt hatte, die letzten leisen Donnerschläge des abziehenden Gewitters über sich ergehen zu lassen. Irgendwann, als mir diese von den Beiden aufgezwungene Vorreiterrolle ganz und gar nicht mehr behagte, habe ich Großmutter auf die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit der „Erstbestrafung“ hingewiesen. Großmutter erschrak ob ihrer körperlich bedingten Schwäche, die eine Bestrafung so ungerecht ausfallen ließ. Sie versprach mir, hinfort ihre Bestrafungen gerecht und angemessen auf alle Häupter ihrer Lieben zu verteilen. In der ersten Zeit nach diesem Versprechen hat sie zum gerechten Ausgleich, den von den beiden Großen vorgeschickten Kleinen zwar mächtig angeraunzt, sodass dieser aus lautem Hals die Schmerzen der Bestrafung den draußen vor der Tür aufhorchenden beiden Schlaubergern schauerlich verkündete. In Wirklichkeit aber klatschte die Zeitung nicht gegen die Pobacken, nur auf den Küchentisch, und es blieb bei eher liebevollen Klapsen auf die Wange. Traten dann nacheinander die beiden Großen auf den Plan, so teilte Großmutter ihre Kraft vortrefflich ein, sodass beide jeweils sein gerütteltes Maß an Backpfeifen und Hieben erhielten und sich über die wiedererstarkte Hand der Großmutter wehklagend wunderten. Der Zweite bekam so rote Ohren vom Zuhören und von den Backpfeifen. Der Dritte durfte froh sein, wenn er an diesem Abend, zwar unter Schmerzen, jedoch überhaupt am Abendbrottisch sitzen konnte. Nachdem die Ungerechtigkeiten vorheriger Strafaktionen für Großmutter ausreichend ausgeglichen erschienen, hat sie das System der „Strafenden Gerechtigkeit“ ganz umgestellt. Danach ließ sie die Missetäter warten, bis alle zusammen in einer Reihe standen. Dann wurde nach Befragung und Schuldzuweisung mit Einverständnis des Betroffenen ein individuelles Strafmaß festgelegt. Ausflüchte und Leugnen schlugen sich immer in einer Erhöhung des Strafmaßes nieder. So nahm Großmutter für mich die moderne Strafrechtspflege, die sich als Gründe für Strafmilderung und -erhöhung im Strafrecht widerspiegeln, in ihrer Praxis vorweg, ohne jemals die rechtstheoretischen Erörterungen hierzu studiert zu haben.
Wir schreiben den vierzehnten August 2012. Genau zwei Monate und vierzehn Tage ist es her, dass wir von der Hauptstadt Berlin aufs platte Land, sozusagen in unser Paradies, gezogen sind. Auf den Tag genau zwanzig Jahre ist es her, dass ich zum letzten Mal die Geschichten vom kleinen Prinzen verschenkt habe.
Meine Heimkehr hatte ich mir etwas einfacher vorgestellt. Irgendetwas hatte wohl meinen kleinen Planet aus der gewohnten Position geworfen, sodass ich, vom Kurs abgekommen, auf einem ganz und gar fremden Planeten landete.
„Erinnerst Du dich“, fragte der Fuchs zum kleinen Prinzen gewandt? „Wie sollte ich mich nicht erinnern, ich habe Dich doch gezähmt und mich mit
Dir vertraut gemacht. Und Du hast mir beigebracht, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, weil das Wesentlich für die Augen unsichtbar ist“. „Oh“, sagte der Fuchs, „das ist hier nicht das Wesentliche, ich bin nicht der Fuchs, den du gezähmt hast, obwohl ich die Erinnerung
daran habe und damit mit dir vertraut bin. Wir Füchse haben, wie alle Tiere eine kollektive, allen Tieren einer Gattung gemeinsame Erinnerung, im Gegensatz zu euch Menschen. Das ist ein großer
Vorteil, weil wir sonst nicht vor euch bestehen könnten. Ihr Menschen aber habt nur eine persönliche, individuelle Erinnerung, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen. Eure Erinnerungen sind
kostbar. Sie sind Euer wertvollstes Gut, viel mehr wert als alles Gold der Welt, die Edelsteine eures Gedächtnisses.“ „Hm“ sagte der geflügelte Prinz, “ es gibt aber doch sehr unterschiedliche
Erinnerungen, helle, heitere Erinnerungen aber auch dunklere, traurige Erinnerungen, sogar ganz finstere entsetzlich quälende Erinnerungen“. „Oh ja, ich weiß“ sagte der Fuchs, „so wie es ganz
unterschiedliche Edelsteine gibt. Sie sind ein Abbild Eurer Erinnerungen.“
Nach einer Pause zu mir gewandt: „Erinnerst Du dich, Dein liebstes Spielzeug war ein Kaleidoskop.“
Nach der Rückkehr zu meinem kleinen Planeten habe ich voll Erstaunen bemerkt, dass das Schaf aus der Schachtel wider Erwarten und ganz wider seine Natur sich eigenartiger Weise von der zarten Schönheit meiner einzigartigen Rose bezaubern ließ und sich fortan damit begnügte, die oberirdischen Triebe der jungen Affenbrotbäume abzugrasen. So hatte sich dieses mir auf der Seele liegende Problem um die Sicherheit meiner Rose von selbst gelöst. Zuerst jedoch musste ich die erloschenen Vulkane reinigen.
Aus der Ferne betrachtet glich dieser Planet eher einer flachen Scheibe. Die eine Seite war der Sonne zugewandt, während die andere Seite immerzu im Schatten lag und nur vom Abglanz eines darüber stehenden Mondes dürftig erhellt wurde. Auf den beiden Seiten lag jeweils eine Insel in dem großen Ozean, der die beiden Scheibenhälften trennte.
Birnenförmig, geneigte Achse - Nordpol, Eismassiv mit
Gletscherzungen, umgeben von einem blauen Ozean, weißer Mond, Naturwissenschaften
Äquator, getrennt durch Gebirgsmassive, unterschiedliche
Vegetation, Ozeane und Monde in allen möglichen Farbnuancen, Geisteswissenschaften
Südpol, getrennt durch Urwälder und Wüsten, in der Mitte ein
feuerspeiender Vulkan darüber ein Zentralmond, der je nachdem von wo man ihn betrachtet in der Farbe der zugehörigen Glaubensgemeinschaft strahlt, Glaubenswissenschaften