Das alte Rathaus von Massenheim

Das alte Rathaus von Massenheim
Das alte Rathaus von Massenheim

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das mehrere Jahrhunderte alte Rathaus von Massenheim, das, nach dem Bau eines großen neuen Gemeindezentrums, leer steht, wird zum Verkauf angeboten. Im Grunde genommen ist es innen und außen eher eine Ruine als ein bewohnbares Haus. Nachdem ich zum Einzeldienst in die nahe Kreisstadt versetzt bin, suche ich ein dauerhaftes Zuhause für meine Familie. Jedoch ist der Preis für die Größe und die Lage des Hauses wie auch für den schmalen Geldbeutel eines kleinen Staatsdieners in der unteren Besoldungsstufe gerade angemessen. So wird dieses alte heruntergekommene Fachwerkhaus in dem Ort zwischen den Autobahnen im Gebiet zwischen Taunus und Main zur zweiten Heimat für den jungen Familienvater, seine Frau, die kleine Tochter und die Schwiegermutter.

Das alte Haus hat fast vier Jahrhunderte gesehen. Im Gegensatz zu allen anderen alten Häusern in der Nachbarschaft und im gesamten Ort steht es alleine auf der Straßenecke, ohne Innenhof mit großer zweiflügligem Hoftor und kleinem verschlossenem Eingangstürchen daneben, ohne Gesindehaus, Stall, Scheune und Schuppen, selbst ohne Hausgarten, lediglich ein doppelt leintuchbreites ummauertes Gärtchen daneben. Es ist ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit dem für das siebzehnte Jahrhundert und die Orte in der Rhein-Main Ebene typischen mit Lehmgeflecht ausgefülltem Fachwerk, jedoch für jedermann erkennbar kein Bauernhof, von Anbeginn nicht zur Führung eines bäuerlichen Betriebes bestimmt, zumindest im letzten Jahrhundert Sitz der Gemeindeverwaltung. Das Haus ist im hinteren Teil mit einem Tonnengewölbe unterkellert. Im Keller befindet sich ein gut sechs Meter tiefer rund gemauerter Brunnen. Die Räume im ersten Geschoss liegen etwas oberhalb der Straßenebene. Bis zum Fußboden ist das Fundament aus Bruchsteinen gemauert. Von der Seitenstraße führen in der Mitte des Hauses, hinter einem offenen Bogen mehrere Stufen bis zur Haustüre, sie bilden gleichzeitig einen wind- und regengeschützten aber offenen Vorraum. Hinter der Haustür geht ein Flur durchs Haus bis zum Beginn der Treppe, die einmal nach links gewendelt zum ersten Stock hinaufführt. Neben der Treppe biegt der Flur um die Ecke nach links, endet an einer Nebeneingangstür und der Tür, die sich zur Kellertreppe öffnet. Rechts und links des langen Flures befindet sich jeweils ein Raum, der linke, wegen der Toilette, des abzweigenden Flures und des nur halbhoch abgemauerten Niederganges zum Keller etwas kleiner. Die Räume sind niedrig, mit schweren, durchhängenden Deckenbalken in gleichmäßigen Abständen. Die kleinen Sprossenfenster lassen die Räume selbst am Tage bei Sonnenschein dämmrig erscheinen. Im ersten Stockwerk befinden sich vier Zimmer, deren Türen, bis auf eine winzige Kemenatentür, alle von dem Treppenpodest abgehen zu dem die Treppe aus dem ersten Geschoss führt, die sich aber auch nach oben noch einmal drehend weiter zum Dachgeschoss führt. Im Dachgeschoss befinden sich drei etwa gleichgroße Zimmerchen mit zweiseitig schrägen Wänden, gerade einmal zwei Meter hoch. Die Böden sind verfault, die Fenster und Türen undicht, die Wasser- und Elektroleitungen morsch. In den Fachwerkwänden klaffen Löcher. Regen und Wind, Insekten und Vögel haben ungehinderten Zutritt. Nur das Dach ist in letzter Zeit repariert worden, um weiteren Schäden an der Bausubstanz vorzubeugen. Für mich und meine junge Familie ist jedoch die einzige Behausung, die wir uns im teuren Rhein Main Gebiet leisten können. Die Frage ist meist, wo und womit fängt man beim Renovieren eines alten fast baufälligen Fachwerkhauses an. Diese Frage hat sich mir einfach nicht gestellt. Zuerst einmal brauche ich ein Zimmer, in dem ich nach getaner Arbeit mein müdes Haupt niederlegen kann, und in dem ich notwendige Habseligkeiten, wie zum Beispiel meine Uniform, aber auch Arbeitsklamotten und meine Unterwäsche unterbringe. Da die Räume alle in gleich erbärmlichem Zustand sind, bietet sich die kleine Kemenate im ersten Stock dafür an, weil sie am schnellsten bezugsfertig ist. So hause ich den Sommer über in diesem Zimmerchen, gehe von dort zum Dienst, nach dem Dienst an die Renovierung, danach zu Bett und am nächsten Tag folgen die geschilderten Verrichtungen in der gleichen oder je nach Dienst in umgekehrter Reihenfolge. Habe ich Nachtdienst, schlafe ich von acht Uhr in der Früh bis am Nachmittag, um danach an meiner Behausung weiterzuarbeiten. Habe ich Spätdienst, arbeitete ich am Morgen am Haus. Bei Frühdienst ist der Nachmittag dem Hausbau gewidmet. Lediglich zwölfstündige Tagesdienste bringen eine Unterbrechung mit sich. Nachdem die Kemenate hergerichtet ist, brauche ich eine Kochstelle, um meine Mahlzeiten zuzubereiten. Also bietet es sich von selbst an, mit dem Ausbau der Küche fortzufahren. Danach bin ich es leid, mich immer wieder nur auf meiner Dienstelle duschen zu können. Also folgt der Ausbau eines Badezimmers im ersten Stock, wo danach Kinder- und Schlafzimmer zu renovieren sind. Für den Einbau einer Zentralheizung fehlt vorerst das Geld. Vor dem Winter ist der Einbau neuer Fenster vorrangig, weil die alten Fenster so marode sind, dass es an allen Ecken hereinregnet und der schon recht kalte Herbstwind im alten Gebälk jault. Diese Arbeit besorgt ein Schreiner, da in den Maßen, die von den Fachwerkgevierten vorgegeben sind, zu den Preisen, die mein Geldbeutel vorgibt, in keinem Baumarkt Fenster zu bekommen sind. Noch vor Beginn des Winters zieht die Familie mit Frau und Kind, Schwiegermutter und Hamster aus der Mietwohnung im dritten Stock des alten Bürgerhauses in Saarbrücken um in das ehemalige Rathaus der kleinen Gemeinde zwischen Wiesbaden und Frankfurt. Alte Häuser wie dieses haben in den Jahren ihres langen Lebens genau wie alte Menschen ihre Eigenheiten entwickelt. Es dauert einige Zeit, bis man diese entdeckt, erst recht aber bis man diese versteht. Wenn man sie dann aber verstanden hat, muss man meist schon wieder umziehen, ausziehen, fortziehen. So ergeht es auch mir. Das Haus wird im Laufe der Jahre, in denen ich mich neben meinem Berufe, mit ihm tagein tagaus beschäftige, innen und auch außen immer bewohnbarer und wohnlicher. Als es dann denkmalgeschützt, schmuck wie ein Kleinod inmitten anderer ebenso schmucker Häuser steht, als meine Schwiegermutter die Zimmer, die für sie oben unter dem Dach ausgebaut sind, an die inzwischen zum Teenager herangewachsenen Tochter abgibt, da ist die Zeit gekommen, wo es mich umtreibt, wo ich dann Haus und Hof, Kind und Frau verlasse um ein neues Glück zu versuchen.